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Verschiedene: Die Gartenlaube (1853)

Zu jener Zeit war die Ettinger’sche Buchhandlung in Gotha eine der ersten Verlagsbuchhandlungen Deutschlands, und Musäus war veranlaßt worden, das Manuscript des ersten Bandes seiner Volksmärchen an Ettinger mit einer sehr mäßigen Honorarforderung zu schicken. Zu seiner und seiner Ehehälfte großen Freude hatte Ettinger das Manuscript für den genannten Preis behalten und das Honorar unverzüglich geschickt. Zu Weihnachten war aber der kleine Schatz schon ausgeflogen, und nun waren Himmelfahrt und Pfingsten vor der Thüre, und die Frau Professorin wußte nicht, wovon dies und das Nothwendige anschaffen, und der Herr Professor wußte es auch nicht. Ach, Rübezahl kam nicht nach Weimar! Längst lag ein zweiter Band von den Volksmärchen fertig im Schreibpult, und der Verfasser hatte dieses Umstands mit der beiläufigen Bemerkung, daß ihm der Verkauf dieses Manuscripts sehr erwünscht wäre, an Herrn Ettinger in Gotha geziemende Meldung gethan, darauf aber die wenig tröstliche Antwort erhalten, man müsse den Erfolg des ersten Bandes erst abwarten. Ueber das Schicksal dieses ersten Bandes war Musäus natürlich ganz in Ungewißheit und er versprach sich davon keineswegs etwas Gutes. Denn alle Welt drohte sich wie Werther zu erschießen und eine nicht geringe Anzahl verrückter Menschen erschoß sich wirklich, oder seufzte, stöhnte und flennte mit „Siegwart“, winselte den Mond an und löste sich in tugendhafter Liebe, frommer Schwärmerei und trauernder Empfindsamkeit auf, so daß dafür die technischen Ausdrücke siegwartisiren und siegwartsche Liebe aufgekommen waren. Was man mit Werthern und Lotten für Affenschande trieb, davon kann man sich heute gar keine rechte Vorstellung machen. Es klingt Alles wie Fabeln. Das weiße Taschentuch einer Dame von gutem Geschmack mußte durchaus feucht sein, so verlangte es die Mode, und man setzte voraus, daß die Feuchtigkeit von Thränen herrühre. Die Romane „Leiden des jungen Werther“ und „Siegwart“ wurden Gott weiß wie vielmal nachgeahmt, und alle diese schlechten Bücher fanden Käufer, das Werther- und Siegwartsfieber schien noch im Steigen begriffen zu sein und die Helden der Romane mußten sich entweder wie Werther erschießen, oder auf dem Grabe der Geliebten in einer Mondscheinnacht vor süßem Schmerz und Sehnsucht umkommen, wie der Klosterbruder Siegwart. Wie durfte eine so unberühmte Feder wie die unseres heitern lebensfrohen Musäus gegen diesen Unfug aufzukommen hoffen?

So standen die Dinge im Musäus’schen Hause zwei Tage vor Himmelfahrt. Die Frau Professorin machte ein verdrießliches Gesicht und war sehr schweigsam; der Herr Professor schielte zuweilen nach ihr hinüber, während er sein frugales Frühstück einnahm und schnitt dann seinerseits ein drolliges Gesicht. Endlich fragte er ironisch: „Soll ich Dir etwa ein lustiges Stückchen vom Rübezahl vorlesen?“

„Ach davon kommt er nicht in’s Haus und bringt uns nichts von seinen Schätzen! Du hast Dich so nobel gegen ihn benommen; er führt sich dagegen schlecht gegen Dich auf. So geht’s den Dichtern immer. Sie erfreuen alle Welt; Niemand erfreut sie.“

„Das solltest Du in Weimar nicht sagen. Du bist ungerecht.“

„Du bist nicht Wieland, nicht Goethe und nicht Herder. Zu diesen kommt Rübezahl mit vollen Händen, nicht zu uns.“

„Wer weiß! Es ist noch nicht aller Tage Abend,“ versetzte Musäus, nahm sein Lehrbuch unter den Arm, pfiff den Dessauer Marsch leise durch die Zähne und verfügte sich zu seinen Tertianern.

Er mochte ohngefähr eine Stunde aus dem Hause sein, als ein stattlicher Fremder mit einem sehr ehrlichen und gutmüthigen Gesicht, fein und modern gekleidet mit einem Diener hinter sich, der einen großen Carton trug, in dasselbe trat und bei der Frau Professorin anfragte, ob er die Ehre haben könne, den Herrn Professor zu sprechen?

„Mein Mann ist im Gymnasium,“ versetzte die Frau, „und wird erst in einer Stunde zurückkehren.“

„Desto besser,“ sagte der Fremde. „Dann werde ich mich mit Ihrer gütigen Erlaubniß so lange mit Ihnen unterhalten. Zuvor habe ich aber eine etwas delikate Bitte an Sie zu richten. Meine Gesundheitsumstände verlangen nämlich, daß ich salva venia die Leibwäsche öfter wechsele, und ich fühle mich nicht eher behaglich und zu einer muntern Unterhaltung aufgelegt, bevor ich nicht dieser Pflicht gegen mich selbst genügt habe. Gestatten Sie mir also in einem Zimmer meinem Bedürfniß zu genügen.“

Die Frau Professorin fand dieses Verlangen allerdings etwas sonderbar und begriff nicht, weshalb der fremde Herr nicht vorher im Gasthofe seinem Reinlichkeitssinne das nöthige Opfer gebracht, zumal sie den Diener als Lohndiener eines der ersten Gasthöfe erkannte, inzwischen bat der Unbekannte so höflich und benahm sich so fein, daß sie ihm ohne Weiteres ihre Putzstube öffnete. Der Diener stellte den Carton dort ein und empfahl sich. Der Herr riegelte die Thür zu und hielt sich eine geraume Zeit zurückgezogen. Dann trat er sehr freundlich heraus, setzte sich zu ihr nieder und brachte sie bald zum Plaudern. Da waren es theils die kleinen häuslichen Verhältnisse, theils die größern öffentlichen, die er ihr so fein, so geschickt, so treuherzig abzufragen verstand, daß sie ihm, sie wußte selbst nicht wie, nicht nur über das eigne Hauswesen detaillirte Mittheilungen gemacht und über die unzureichende Besoldung und die stille Resignation auf kleine freundliche Wünsche geseufzt hatte, sie war auch in glänzende Schilderungen des Hofs und des Adels gerathen; sie hatte von den Liebschaften des Herrn Geheimenraths von Goethe mehr fallen lassen, als sie selbst gewollt, über das seltsame eheliche Leben des Herrn Generalsuperintendent Herder und dessen Gemahlin Einiges gesprochen, was ihr nicht lieb war und über des Hofrath Wieland’s Eigenthümlichkeiten Erörterungen gegeben, die wohl auch besser unterblieben wären; denn sie kannte ja den Herrn, zu dem sie sprach, nicht. Das Alles überlegte sie sich aber erst, als der gute Musäus hereingetreten und sich mit dem Fremden bekomplimentirt hatte. Es war ihr, als habe es ihr der fremde Herr angethan. „Mit wem habe ich die Ehre?“ fragte der Professor.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1853). Leipzig: Ernst Keil, 1853, Seite 483. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1853)_491.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)