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verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

Zweig, als sein „Geschäft.“ Was daneben und drüber hinausliegt, geht ihm nichts an. Ein Mensch hat den linken Fuß gebrochen, wendet sich an einen Chirurgen und wird von demselben mit dem Bemerken, daß er sich blos mit Heilung rechter Füße abgebe, wieder entlassen. Das ist ein Punch-Witz für die Sache.

Lord Moretown war öfter und immer öfter „in Geschäften“ aus, und so oft er auch zurückkam, wurde er doch nie eigentlich warm zu Hause. Seine Gemahlin that alles Mögliche in Zuvorkommenheit, Nachgiebigkeit und Sorgfalt, beinahe wie ein treuer Diener, aber die früher abgebrochene Unterredung ward nicht wieder angeknüpft. Er blieb auch „abwesend“, wenn er zu Hause war. Alle merkten, daß ihm etwas Besonderes „im Kopfe herumging.“ Auch Mademoiselle Athalie, die (vielleicht aus Furcht vor dem Hauslehrer) mehr hinter Schlüssellöchern, als in Zimmern gesehen ward, schien den Kopf über den Lord zu schütteln, da er sie eben so sehr mied, wie alle Andern. Eines Morgens, als er eben wieder abreisen wollte, bat sie dringend um eine Unterredung, ward aber abgewiesen, und als sie ihm mit funkelnden Augen beim Einsteigen in den Weg trat, stieß er sie sehr unsanft zurück und fuhr hastig ab. Ellen sah es vom Fenster aus. Man wird ihr die kurze Freude gönnen, die sie darüber empfand. Sie war kurz, denn kaum hatte sie sich mit dem Knaben hingesetzt, um dem Unterrichte des Hauslehrers im Deutschen zuzuhören, stürmte Mademoiselle Athalie furienhaft herein und überschüttete die drei ruhigen Menschen mit einer solchen Fluth von französischen Interjectionen und dramatischen Redensarten, daß alle Drei das räthselhafte Ende eines fünften Aktes vor sich zu haben glaubten, ohne die vorhergehenden gesehen zu haben. Ellen winkte mehrmals mit abgewandtem Gesicht nach der Thür, was die tragische Hitze, wie sie am Ende eines fünften Aktes pflichtschuldigst entwickelt werden muß, nur mehr zu erhöhen schien, Dr. N. sah dies nicht lange mit an, sondern stand auf, trat dicht vor die tragische Heldin und sagte ruhig und spöttisch:

„Mademoiselle, sagen Sie in möglichst kurzen Worten, wenn sie auch nicht grammatisch richtig sind, was uns eigentlich die Ehre dieser Störung verschafft! Ich unterrichte jetzt im Deutschen. Sie haben mich plötzlich abgelöst, doch zweifle ich, ob dabei die deutsche Sprache gewinnen wird, da Sie es nicht einmal mit Ihrer französischen sehr genau nehmen.“ Mademoiselle schwieg einen Augenblick, gaps’te und zitterte und fuhr dann mit einem wilden Gekreisch dem Hauslehrer in die Haare, die zufällig nicht, wie häufig in Lustspielen, aus einer Perrücke bestanden, sondern sehr fest in der Haut wurzelten, so daß er nicht ohne Schwierigkeit sich in Freiheit, die dramatische Französin aber „an die Luft“ setzte und aus derselben in das Kaninchenhaus, das sich der junge „Erbe“ von seinem Taschengelde hatte erbauen lassen. Nachdem er sie hier unter Schloß und Riegel gebracht, kehrte er zurück, um in Förderung der deutschen Sprache in England weiter fortzufahren. Doch die Sprache stummen, tiefsten Schmerzes, die er in Ellen’s Gesicht und Haltung ausgeprägt fand (der Knabe hing an ihrem Halse und streichelte und liebkoste vergebens) behauptete ihr Vorrecht über die deutsche Sprachlehre. Dr. N. vermuthete jetzt erst, daß der Inhalt der dramatischen Mittheilung Athalien’s ihr neu gewesen sei, doch nahm er keinen Anstand, sie zu ermahnen, daß ein Wesen ihrer Art durch die tiefste Verachtung gegen solche Störungen des Haus- und Herzensglückes geschützt sein oder wenigstens Schutz suchen müsse.

„Vergrößert der Umstand, daß ich einen Mann, der sich mir als edler Beschützer beinahe aufdrang, verachten und zugleich seine Frau sein muß, mein Elend nicht bis zum Unerträglichen? Mein Kind, Du kannst jetzt mit John Deinen Spazierritt machen.“

Der Knabe küßte seine Mutter und sprang hinaus. „„Nein, Mylady, ich denke nicht! Sie sind es, wenn, was ich unwillkürlich habe hören müssen, es wahr ist, es Ihrer und der weiblichen Ehre überhaupt schuldig, Ihrer heilig-gerechtfertigten Verachtung zu folgen, falls Ihr Edelmuth nicht so weit gehen sollte, dem Lord Moretown eine stricte Bedingung zu stellen und Ihr Recht, Ihre Pflicht zur Scheidung noch davon abhängig zu machen.““

„Ich bleibe unter allen Bedingungen entwürdigt, entehrt – unheilbar.“

„„Es hat mir immer geschienen, daß es Menschen, namentlich Frauen giebt, die mitten in einer moralischen Pestluft rein und edel bleiben, wie im Physischen Naturen vorkommen, die unangefochten und gesund durch Pest- und Fieberhospitäler gehen. Der Eindruck, den Sie jetzt auf mich machen, ist der, daß Sie, in Ihrem tiefsten Abscheu vor dem Schmutze, den die schamloseste Frechheit nach Ihnen warf, nur noch reiner und edler erscheinen. Wenn das wahrhaft Schöne durch schöne Umgebung noch gewinnen kann, ist es gewiß noch mehr der Fall durch den Kontrast des Häßlichen neben ihm.““

„Das klingt sehr geistvoll und treffend, kann aber ein so mißhandeltes Herz, wie das meinige, nicht erquicken.“

„„Das find’ ich richtig, aber ich halte mich für verpflichtet, mit der Sprache meines Herzens zurückzuhalten.““

„Wahrscheinlich, weil ich eine so hohe Lady und bereits mit meinem Herzen versagt bin?“

„„O mein Gott, nein, nein, nein! Aber Sie erscheinen mir in Ihrem tiefen Schmerze wie eine Heilige.““

Sie antwortete lange nicht und schlug sinnend das Auge zu Boden. Dann reichte sie ihm die Hand.

„Der tiefe Schmerz macht mich auch wahr und ehrlich,“ sagte sie, „nennen Sie es schwach. Ich bedarf eines Herzens. Ich bedarf Ihres Herzens.“

Sie lehnte sich schwach an seine Brust. Ein lautes Schluchzen brach aus und zuckte lange und krampfhaft durch den großen zarten Körper. Beide sprachen kein Wort, nur die Herzen redeten.

Sie saßen mehrere Stunden später wieder neben einander, diesmal in lebhafter Unterhaltung, als sie durch die plötzliche Ankunft und den wüthenden Eintritt des Lords auf das Entsetzlichste überrascht wurden. Kirschbraun vor Wuth brüllte er seine Frau an: „Denkst Du, Tochter eines Wucherers, das Geschäft Deines Vaters fortzusetzen? Wo hast Du das Geld versteckt? Ich habe nun das Haus des alten Maulwurfes bis in den tiefsten Grund aufreißen lassen, nichts fand ich, als einige elende Papiere und gestohlene Münzen. Wo sind die 150,000 Pfund? Nicht 150,000 Schillinge sind da! Denkt ihr Schachervolk mit einem Manne von Geburt zu spielen? Ich gab Dir meinen Titel für 150,000 Pfund, nicht um einen Farthing billiger. Wo ist das Geld? Wo? Den Augenblick – oder –“

Die Frau flüchtete sich todtenbleich hinter den Hauslehrer, der ihm ernst und ruhig in’s Auge sah und zugleich Miene machte, ihn wie eine Bestie niederzuwerfen, wenn er noch mehr Rohheit offenbaren sollte. Obgleich beinahe blind vor Wuth, sah der Lord dennoch, wen er vor sich hatte und sagte mit gezwungener Mäßigung: „Herr Doctor, ich fordere Sie als einen gebildeten Mann auf, jetzt das Zimmer zu verlassen. Ich habe mit Lady Moretown wichtige Privatangelegenheiten abzumachen, wie Sie ohnedies schon merken konnten.“

„„Sie haben mit Lady Moretown keine Privatangelegenheiten unter vier Augen mehr abzumachen, seitdem –““

Der Hauslehrer konnte nicht ausreden, da eben Athalie mit zwei Kindern hereinstürzte, sie vor den Lord Moretown hinstieß, daß das jüngste jämmerlich hinfiel und aufschrie, während die Mutter kreischte: „Da geht betteln und fangt bei Eurem Vater an. Ich werde nie bei einer Lady Moretown betteln, mein Lord!“

Da lag die hohe Gemahlin eines Lords todtenbleich, bewußtlos; da zitterte der hohe Lord, gelb und hohl und bleiern, der unglückliche Goldgräber in dem Hause seines Schwiegervaters; da warf eine leibhaftige Mutter ihre eigenen Kinder wie giftige Schlangen von sich. – Welch eine schauderhafte Fülle von gräßlich verzerrten Menschengestalten in dem kleinen Raume, der auf den größten Karten von England noch mit einem Stecknadelkopfe bedeckt wird! Und alle Bibeln und Evangelien und Tugenden der Erde reichen nicht hin, die Mißgestalten zu umhüllen, deren Verzerrungen und Bestialitäten die Oberfläche der Erde überall mit Verhöhnungen der Menschlichkeit bedecken, und überall an demselben Faden gezogen und aus demselben Grunde alle Glieder verrenkend, diese Zappelmänner irdischer Herrlichkeit, um einen Teller herumgehen zu lassen und Geld einzusammeln, Geld, Geld, Geld!

O lernt mit dem Gelde umgehen, lernt es beherrschen, sonst zerreißt es euch Herzen, Familien, Staaten, Gesellschaften, die Erde und den Himmel.




Meine Geschichte ist zu Ende. Der Lord war eines Tages verreist, wie man sagte, nach dem Rhein, um dort seine derangirten

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verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 116. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_116.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)