Seite:Die Gartenlaube (1854) 345.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

No. 30. 1854.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redakteur Ferdinand Stolle.
Wöchentlich 11/2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 121/2 Ngr. zu beziehen.

Arzt und Advokat.
(Schluß.)

In diesem Augenblicke ließ sich die Glocke am Thore vernehmen. Anstatt zu antworten, ergriff der Doctor Joseph’s Hand, und zog ihn hastig in das Kabinet, dessen Thür er hinter sich verschloß. Die Männer nahmen so auf zwei Stühlen Platz, daß sie durch die Vorhänge den hellerleuchteten Saal übersehen konnten.

„Und nun denken Sie“, flüsterte der Doctor, „daß sie an dem Krankenbette Ihrer Louise sitzen. Vermeiden Sie jedes Geräusch, und fassen Sie sich in Geduld; daß diese Krisis heilbringend ist, verbürge ich mit meinem grauen Kopfe. Beobachten Sie genau, aber staunen Sie über nichts, was auch kommen möge. Fragen Sie mich nicht, denn ich werde nicht antworten.“

Die Pein des armen Joseph läßt sich nicht beschreiben, als er den Advokaten in den Saal treten sah. Er war der festen Meinung, daß er Zeuge von der Arglist seiner Frau sein sollte. Mit einem verzweifelten Muthe entschloß er sich, zu lauschen, und dann seine Einrichtungen darnach zu treffen.

Julius, höchst elegant gekleidet, ging lächelnd im Saale auf und ab. Von Zeit zu Zeit blieb er stehen, sah nach der Uhr und lauschte. Als sich kein Geräusch vernehmen ließ, trat er zu dem Tische, auf dem die Lampe brannte, zog ein Billet hervor und las.

„Er prüft noch einmal, ob es echt ist“, dachte lächelnd der Doctor. „Ah, mein Freund, wir machen die Handschriften nicht nach, so lange uns die Originale zu Gebote stehen.“

Fünf Minuten verflossen. Da erklang die Glocke am Thore wieder. Joseph sah, wie Julius stehen blieb, mit einem triumphirenden Lächeln nach der Thür blickte, und mit der Hand durch das krause Haar fuhr. Der Doctor ergriff die Hand des jungen Kaufmanns, als ob er ihm Muth einflößen wollte; bei dieser Gelegenheit fühlte er, wie sein Puls jagte, und die Hand brannte.

„Es ist nichts! Es ist nichts!“ flüsterte er an seinem Ohre.

Joseph lauschte in einer furchtbaren Spannung. Da ward zum zweiten Male die Thür geöffnet, und eine Dame trat ein. Sie trug einen kurzen seidenen Mantel und einen weißen Hut, dessen Schleier das Gesicht bedeckte. Nachdem sie vorsichtig die Thür verschlossen, trat sie tiefer in den Saal.

„Meine Frau!“ flüsterte der Kaufmann, dem das Blut in den Adern stockte. Und mit einem konvulsivischen Zittern ergriff er die Hand des Arztes, ohne die beiden Personen im Saale außer Acht zu lassen.

„Ruhig, ruhig!“ mahnte der Doctor.

Die Lauscher sahen nun, wie der Advokat der jungen Frau entgegentrat, ihre kleine mit weißen Handschuhen bekleidete Hand ergriff, und sie zärtlich küßte.

„Endlich?“ rief er aus. „Die Minuten sind mir zu Stunden geworden, und schon zweifelte ich, daß ich diesen Abend so glücklich sein würde, Ihnen die Gefühle meiner aufrichtigsten Verehrung ausdrücken zu können. Ach, Louise, Sie haben bisher grausam mit mir gespielt!“

Die Dame antwortete nicht, aber ihr ganzer Körper begann zu zittern, und ein leises Schluchzen ließ sich vernehmen.

„Sie weinen!“ rief Julius Morel mitleidig. „O, diese Thränen brennen wie Feuer auf meinem Herzen! Louise, brechen Sie diese lästigen Fesseln, vertrauen Sie mir, der sich auch ohne Ihren Willen mit Ihrem Glücke beschäftigt hat, vertrauen Sie dem guten Geiste der wahren Liebe, und die Zukunft wird eine heitere, eine lichtvolle sein. Sie haben mich bisher nicht verstanden, Sie haben wie eine fromme Dulderin gelitten, ohne die Quelle Ihres Leidens zu kennen. – Louise, heute werden Sie mir sagen, daß ich Recht gehabt habe! Wie Keiner in der Welt fühle ich mich berufen, Ihr Glück zu fördern, und bei Gott, ich werde es befördern! Immer noch Thränen als Antwort? Können Sie sich nicht entschließen, mir Ihr Herz auszuschütten? Louise, lassen Sie mich in Ihrem schönen Auge lesen, was Sie den Muth nicht haben mir zu sagen, und ich vollende das Werk Ihrer Befreiung, das ich bereits wider Ihren Willen begonnen habe!“

Julius warf den Schleier zurück. Doch kaum hatte er das Gesicht der Dame erblickt, als er bestürzt zurückwich, und einen lauten Schrei ausstieß. Joseph suchte seine Augenkraft zu verdoppeln, und er sah ein fremdes, aber sehr schönes Frauengesicht, das von Aufregung geröthet, und in Thränen gebadet war.

Das Wesen des Advokaten hatte sich plötzlich verändert. Bleich vor Zorn und zitternd am ganzen Körper trat er der jungen Frau wieder näher, und rief mit erstickter Stimme: „Du, Helene, Du? Wahrlich, Du spielst eine vortreffliche Rolle! Bekenne, Elende, wer hat Dich dazu gedungen? Wie kommst Du in dieses Landhaus?“

„Wer mich dazu gedungen?“ fragte eine zarte, bebende Stimme. „Niemand, Herr Advokat Morel! Ich glaube, ich habe ein Recht dazu, meinen Mann an das zu mahnen, was er mir vor dem Altare Gottes feierlich gelobt hat! Diesen Mittag boten Sie mir Geld, wollten mir meine Ansprüche an Sie abkaufen, und droheten selbst, mich durch Ihren Einfluß zu vernichten, wenn ich mich nicht gutwillig fügte.“

„Und es wird noch geschehen!“ sagte Julius, der seine Fassung wiedererlangt, in einer furchtbaren Ruhe und Kälte. „Madame, Sie kennen jetzt ein Geheimniß meines Herzens, das Ihnen darthun muß, wie wenig Sie von mir erwarten können. Ich wiederhole

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 345. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_345.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)