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verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

F stehende Faser zeigt, wo die kleinen Kreise (o) die Enden zweier sich an einanderlegenden Fasern bezeichnen. Ich bemerke Dir noch, daß die seitliche Verbindung vieler Flachsfasern in der Bastschicht des Flachses sehr innig und fest ist und daß darauf die Schwierigkeit guter Flachsbereitung beruht. Wenn Du einen grauen Zwirnsfaden aufdrehst, so sind die einzelnen feinen Fädchen desselben noch nicht die einzelnen Flachsfasern, sondern es sind darin deren drei, vier und mehrere noch zusammengeklebt, wie sie es in der Bastschicht der Flachsrinde waren.

Nun laß uns damit die Baumwollenfaser vergleichen (B). Auf den ersten Blick siehst Du, daß dies keine runden Fasern, sondern zarte Bänder sind, welche sich an mehreren Punkten schraubenförmig umdrehen. Die querdurchschnittene mit dem Sternchen bezeichnete Faser belehrt Dich, daß man sie noch richtiger zarte breit gedrückte Schlauche nennen und einem leeren Spritzenschlauche vergleichen könnte. Sie haben stets einen beträchtlichern Hohlraum als die Flachsfasern, der natürlich ebenfalls breit gedrückt ist. Sie enden ebenfalls, siehe die Zelle neben B, in ein sehr langes und sehr feines Ende. Stets fehlen ihnen die Querlinien und stets sind sie auch etwas breiter als die Flachsfasern.

Es bedarf keiner weiteren Erläuterungen; der Augenschein sagt Dir hinlänglich, wie verschieden die Baumwollenfaser von der Flachsfaser ist, und daß man von der völligen Reinheit bis zu jedem Grade der Verfälschung die Güte der Leinwand mit dem Mikroskop ganz sicher entscheiden kann. In meinem nächsten Briefe will ich Dir dieselbe Beweiskraft der mikroskopischen Untersuchung an der Wolle und Seide zeigen.




Ein Tag im Krystall-Palaste in Sydenham.[1]

Wenn bei dieser Julihitze die graden, langen Straßen noch dazu, wie Peter Schlemihl, keinen Schatten haben, wird die Sehnsucht nach dem Luftigen und Grünen, nach dem Schatten kühler Denkungsart zur brennenden Tagesfrage. Also hinaus, hinaus in’s Weite um jeden Preis, wenn’s nicht zu theuer ist! Und wo könnte man die weite, weite Welt in ihrer Schönheit näher und wohlfeiler haben, als im Krystall-Palaste? Nun denn zunächst hinunter nach der Themse, die uns fortwährend mit Tausenden à ein Penny die Person, per Dampf vom West- nach dem Ostende, der London-Brücke, der gewaltigsten Verkehrsschlagader Londons, hinuntertreibt, denn zu Fuße durch die Stadt käme man auf dem Eisenbahnhofe nur halb an: die andere, vielleicht bessere Hälfte würde rein verschwitzt sein. In der vielthorigen Stadt des Brighton-Eisenbahnhofes müssen wir bis zum äußersten Südende vordringen, wo immer blos Geld genommen und nichts herausgegeben wird, also vielleicht dem einzigen Punkte auf der Erde, wo man sich durch das Gesetz souverainster Selbstbestimmung gegen jeden „Wechsel“ verbarrikadirt hat. Man muß grade achtzehn Pence haben, um einen Paß dritter Klasse zur Eisenbahn des Krystall-Palastes, zu ihm selbst und für den Rückweg zu kaufen. Hat Jemand ein größeres Stück Geld, bekommt er eben auch nur den Paß dafür: herausgegeben wird nichts: „no change given“ (hier wird nicht herausgegeben) hängt mit großen, dicken Buchstaben vor der Billet-Verkaufs-„box“, die, fortwährend umwogt von dem wüthenden Wellenschlag der Menge, wie ein Fels im Meere trotzig dasteht, und zu dem Oceane der Menschen zu sagen scheint: Ich bin das Thor zur höchsten irdischen Seligkeit und ein Monopol! Also müßt Ihr Euch Alle nach mir richten! Wozu brauch’ ich Euch denn Geld herauszugeben? Ihr kommt ja doch! Ihr seid ja schon glücklich, wenn Ihr im wüthenden Gedränge einen Platz in den fortwährend hin- und herrasenden Zügen erwischen könnt! Ihr müßt kommen, denn dies ist der einzige Weg zum höchsten Stolze der Kultur dieses Jahrhunderts.

Richtig, da sieht man mit einem Blick, was für ein Despot das Monopol ist, wo es auch auftrete. Menschlicher und richtiger stellen wir uns wohl das ganze Unternehmen in seiner Kindheit in der Lage des Goethe’schen Zauberer-Lehrlings vor: „Die Geister, die ich rief, die werd’ ich nun nicht los!“ Die Kultur-Genien aller Zeiten und Zonen hier vereinigt, bilden eine solche Anziehungs-Gewalt, daß sie den Direktoren über den Kopf wuchs. Im Innern, in Placirung, Anordnung, Vollendung, überall Krisen der Verlegenheit aus der Fülle des Stoffs, im Aeußern sogar finanzielle Verlegenheit, Fallen der Actien unter Pari, weil zu viel Besucher zugleich zu wenig sind. Zwar sausen die Locomotiven mit langen, vollgepfropften Zügen ununterbrochen hin und her, aber sie können’s nicht leisten. Stets bleiben Hunderte und Tausende zurück, die dann, wie Wahnsinnige, auf den nächsten Zug los- und sich mit Todesverachtung über ihn her- und hineinstürzen, ehe er zur Ruhe kommt. Obgleich er nun gleich wieder umkehrt und vor drei-, vier, fünf andern Zügen, die neue Massen holen, vorbei saust, stehen doch immerwährend unabsehbare Schaaren umher, die immer wieder bis zum nächsten warten müssen. Der Fehler ist freilich sehr einfach und man arbeitet schon stark an gründlicher Heilung. Die eine Doppeleisenbahn reicht eben nicht hin. Man eröffnete insofern zu früh, als man die andere Bahn für die Bewohner des Westendes nicht zur rechten Zeit vollenden konnte. Im nächsten Jahre ist aber dieser Schaden geheilt, und da das Parlament unlängst Oeffnung der Museen, Galerien, Vergnügung-und Erholungsanstalten und Schließung der Branntwein- und Biertempel an Sonntagen (bis auf einige Stunden) beschlossen hat, ist die kleine finanzielle Krisis so gut wie ganz vorüber. Die Verwaltungskosten des Krystall-Palastes sind auf 52,000 Pfund Sterling veranschlagt. Und diese bringt grade oder wenigstens das Sonntags-Publikum: 40,000 Besucher durchschnittlich auf jeden Sonntag vorauszusetzen, ist der Gewalt und Schönheit des Volks-Tempels gegenüber eine sehr mäßige Wahrscheinlichkeits-Rechnung. Der unerschöpfliche Inhalt von Erheiterungs-, Kultur- und Veredelungs-Material erhebt den Krystall-Palast über alle jene „Sehenswürdigkeiten“, die man eben mit einer Inspektion abgethan zu haben glaubt. Man darf ihn entweder nie besuchen, oder muß zum zweiten Male kommen. Und wer ihn zweimal genossen, ist schon verloren für stumpfes Zuhausesitzen, und die Frohndienste unter der faulen, absoluten Herrschaft des Alkohol und Porter-Gambrinus, unter der kein Volk der Erde so tief gesunken ist, als das englische.

Die Eröffnung der Erholungs- und Bildungsanstalten an Sonntagen ist der erste, große, für englische Verhältnisse weltgeschichtlich wichtige Sieg des hohen Krystall-Palastes über die Hochkirche und die Aristokratie. Zwar glaubt man den Sieg theuer erkauft zu haben durch Erweiterung der Magistrats- und Polizeigewalt über das Volk, das sich nun schon um eilf Uhr Abends aus den Trinkhäusern treiben lassen muß, wenn’s nämlich gehen will; aber der Preis ist deshalb nicht zu theuer, weil man ihn wahrscheinlich gar nicht zahlen wird, insofern in ihm eine willkürliche Polizeigewalt liegen würde. Massen-Petitionen, die sich organisiren, werden die zwölfte Stunde retten, die nach der ganzen Oekonomie des englischen Volkslebens unentbehrlich ist für den Tag, und im Uebrigen werden Krystall-Palast, Museen u. s. w. schon selbst dafür sorgen, daß sich das Volk nicht mehr bis Mitternacht in Bier und Gin wegwirft. Die Moral als blühende Polizeitreibhauspflanze gehört eben gar nicht in das sittliche Pflanzenreich: sie ist aus der Fabrik von Draht und farbigem Kattun.

Diese moralische Betrachtung ist schon zu lang für den kurzen Weg bis zum Aussteigen unter der mächtigen Glashalle des Krystall-Palastes, der uns ganz dicht an der Eisenbahn zuerst mit der (noch sehr kahl aussehenden) „geologischen Insel“ begrüßt. Wie klein die vorsündfluthlichen Ungeheuer in den großen Umgebungen aussehen? Sind es Copien von den kolossalen Originalen in ein Zwölftel Größe? Nein, es sind dieselbe selbst, zwölf Mal so groß, als sie aussehen. Ein Paar lebendige Pferde in der Nähe, die nicht größer wie Hasen erscheinen, berichtigten sogleich die optische Täuschung.

Durch verschiedene, in Terrassen sich erhebende Seitenflügel steigen wir endlich in dem eigentlichen Seitenflügel des Palastes hinauf, vor industriellen Ausstellungen, wohlfeilen Eß- und Trink-Anstalten,


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verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 386. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_386.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)