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verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

„Ja; aber ich wollte es nicht glauben.“

„Es ist die Wahrheit.“

Der junge Mann vermochte nicht zu antworten; er kämpfte mit einer gewaltigen Bewegung. Nach einer Pause rief er: „Sie wird es nicht wagen, Dir Kummer zu bereiten! Wenn sie nur ein wenig Dankbarkeit gegen den Mann empfindet, der ihr ein so großes Vermögen hinterlassen hat, so muß sie seine Tochter – und Du bist die Tochter des Obersten – achten und ehren!“

„Darauf rechne ich nicht,“ antwortete sie in einem schmerzlich milden Tone. „Sobald die Erbschaftsangelegenheit geordnet ist, verlasse ich das Schloß. Der selige Oberst hat so viel Gutes an mir gethan, daß ich ferner nichts mehr erwarten kann.“

Philipp schwieg einen Augenblick. Hätte Marianne zur Seite gesehen, so würde sie bemerkt haben, daß sich des jungen Mannes eine große Bestürzung bemächtigt hatte. Sein großes Auge starrte zu Boden und seine Lippen zitterten.

„Du willst fort?“ fragte er dann leise und mit bewegter Stimme.

„Ich muß, Philipp, so schwer mir der Abschied von dem Orte meiner Kindheit auch wird.“

„Und wohin willst Du gehen?“ fragte er kaum hörbar.

„Ich vertraue auf Gott und gute Menschen. Die kurze Zeit, die mir noch hier zu bleiben vergönnt ist, werde ich größtentheils im Kreise Deiner Familie zubringen.“

Hier stockte das Gespräch. Philipp hatte nicht den Muth zu reden, und Marianne war von dem Gedanken an die Trennung so ergriffen, daß sie aller Fassung bedurfte, um ihre Thränen zurückzuhalten. Sie standen an dem Gitter des ländlichen Friedhofs, dessen Thor geöffnet war. Der Todtengräber war beschäftigt, ein Kindergrab zu graben. Als er Marianne erblickte, stellte er die Arbeit ein, und zog ehrerbietig seinen Hut.

Das Feld des Todes war mit kleinen Hügeln und weißen und schwarzen Kreuzen bedeckt. Man sah weder prunkenden Marmor noch vornehme Besucher, welche kokettirend zierliche Blumen auf die Gräber setzen; allein so viel ist gewiß, daß hier manche aufrichtige Thräne die einsamen Furchen benetzt. Die beiden jungen Leute gingen schweigend durch die zusammengesunkenen Hügelreihen, um deren einfache und verwitterte Holzmonumente sich der Brombeer rankte. Plötzlich blieb Marianne bei einem Doppelgrabe stehen, das sich von den Übrigen durch ein niederes Holzgitter auszeichnete. Zwei Kreuze ragten darüber empor. Auf dem einen standen mit noch kaum leserlichen Buchstaben die Namen „Georg Lorenz“, auf dem andern „Elisabeth Lorenz“.

„Meine Aeltern!“ flüsterte Marianne, in stilles Weinen ausbrechend.

Die Zeit der Jugend, so weit sie sich deren erinnern konnte, ging deutlich vor ihrer betrübten Seele auf. Sie sah Vater und Mutter in dem armseligen Häuschen am Walde, den kleinen Philipp, der lächelnd durch die niedere Thür eintrat, um seine Gespielin abzuholen, und endlich sich selbst in den ärmlichen Kleidern, die im Sommer kaum hinreichten, um die Blößen zu bedecken.

Mit einer innigen, unbeschreiblichen Wehmuth gedachte sie dieser traurigen, aber dennoch glücklichen Zeit. Vater und Mutter schlummerten im Grabe, und das Häuschen am Walde war verfallen – nur Philipp noch stand ihr zur Seite mit entblößtem Haupte und feuchten Blickes die Ruhestatt betrachtend. Der junge Mann erschien ihr wie ein heiliges Vermächtniß, selbst wie die einzige Stütze, an die sich das Herz anklammern konnte. Er trauerte mit ihr um die entflohenen Freuden der Kinderjahre, er empfand mit ihr das Drückende der Gegenwart – er allein. Das Gitter um die geliebten Gräber hatte er angefertigt, und die beiden Kreuze waren von seiner Hand geschnitzt und beschrieben. Noch nie hatte sie des schlichten Landmanns Bedeutung für ihr Herz so klar und tief empfunden, als in diesem Augenblicke, wo eine entscheidende Wendung ihres Geschickes bevorstand. Wie überwältigt von den anstürmenden Empfindungen und Gedanken reichte sie ihm die Hand.

„Laß uns weitergehen!“ flüsterte sie.

Sie gingen um die Dorfkirche mit ihrem viereckigen Thurme, spitzem Schieferdache und ihren winkeligen Strebepfeilern. Die Kirche von Adersheim gehört zu den klassischen Gotteshäusern jener Gegend, das heißt, sie ist im grauen Alterthume erbaut, in verschiedenen Kriegen vertheidigt und erobert worden, und enthält die Familiengruft der Herren von Adersheim, eines der ältesten edeln Geschlechter. Zu dieser Gruft gelangt man durch ein Eisengitter, das die untere Thurmhalle abschließt. Die Halle enthält einen großen Sarkophag von Stein, der so lange die Hülle des Letztverstorbenen birgt, bis ein neuer Todesfall die Räumung desselben erfordert. Am Begräbnißtage des Barons Friedrich von Adersheim, des Pflegevaters unserer Marianne, hatte man den Baron Anton, den Großvater Franziska’s, in dem unter der Kirche befindlichen Gewölbe beigesetzt. Der letzte der Herren von Adersheim lag jetzt in dem Sarkophage, es gab keinen mehr, der ihm seinen letzten Platz streitig machen konnte.

In diese Halle traten Philipp und Marianne. Wie erstaunten sie, als sie eine Fülle frischer Blumen ausgestreut fanden. Der Ort der Verwesung duftete lieblich wie ein Gewächshaus.

„Man ist mir schon zuvorgekommen,“ sagte Philipp traurig.

„Der gute Oberst,“ flüsterte Marianne gerührt, „besitzt auch außer uns noch Freunde, deren Hand liebend seine Ruhestätte schmückt. Ich möchte sie kennen lernen.“

In diesem Augenblicke trat der Todtengräber ein.

„Wer hat die Blumen gestreut?“ fragte ihn das junge Mädchen.

„Ein Herr, wahrscheinlich aus der Stadt,“ war die Antwort. „Ich mußte ihm das Gitter öffnen, und darum finden Sie es noch nicht wieder verschlossen.“

„Wann war er hier?“

„Vor kaum einer Viertelstunde.“

„Habt Ihr ihn früher schon im Dorfe gesehen?“

„Nein. Er kam mir vor wie ein Offizier von der Garde, denn er war noch jung, schlank gewachsen, und trug einen schwarzen Schnurr- und Backenbart. Diese Herren haben immer so etwas Eigenthümliches, das sich nicht verkennen läßt. Ich bin früher auch Soldat gewesen, und darum weiß ich das. Der alte Mann, der die Blumen trug, und sein Bedienter zu sein schien, nannte ihn Herr von Linden. Mehr weiß ich nicht von ihm.“

Marianne erinnerte sich Walther’s von Linden, der ihr während ihres Aufenthaltes in der Residenz, so oft sich die Gelegenheit dazu bot, die größten Aufmerksamkeiten bewiesen hatte; da sie wußte, daß er in keiner Beziehung zu dem Oberst gestanden, daß er vielmehr oft in Franziska’s Gesellschaft gesehen worden, und daß man sich erzählte, er mache ihr den Hof, so suchte sie die Erklärung dieser Demonstration in seinem zärtlichen Verhältnisse zu der reichen Erbin. Sie ahnte nicht, daß sie selbst ihrer Feindin Grund zur Eifersucht gegeben hatte.

„Die lachenden Erben,“ dachte sie, „nahen sich der Gruft des Erblassers, um scheinbar ihre Trauer an den Tag zu legen.“

Weiter gab sie dem Umstande keine Bedeutung. Sie verrichtete ein kurzes Gebet, und verließ mit Philipp, den der Bericht des Todtengräbers trüb gestimmt hatte, die Gruft.

„Man gestattet uns nicht,“ flüsterte Marianne ihm zu, „daß wir allein das Grab schmücken. Mögen sie immerhin,“ fügte sie unter Thränen hinzu – „wir bewahren das Andenken an den geliebten Todten in unserm Herzen, und diese Feier vermag Niemand zu beeinträchtigen.“

Unter schmerzlichem Schweigen verließen sie den Gottesacker. Ohne daß eine Verständigung erfolgt, schlugen sie den Weg nach Philipp’s Gehöft ein, daß sie nach einer Viertelstunde erreichten.

Die hochbejahrten Aeltern des jungen Mannes nahmen Mariannen mit einer rührenden Freude auf, denn sie betrachteten sie als die Vermittlerin ihres Wohlstandes. Gewaltsam wurde sie in das beste Zimmer geführt; dort mußte sie sich in dem mit Kattun überzogenen Lehnsessel niederlassen, den die alte Bäuerin nur Sonntags zu benutzen pflegte, wenn sie die Arbeitskleider abgelegt hatte. Marianne hatte seit länger als einem Jahre das Gütchen nicht besucht – wie verändert fand sie heute Alles. Das Stübchen war sauber und geschmackvoll eingerichtet, unter den einfachen Möbeln befand sich ein Sopha, und an den schneeweißen Wänden hingen Lithographien unter Glas und Rahmen. Mutter und Sohn hatten sich entfernt, um ein Vesperbrot für den seltenen Besuch zu besorgen.

„Dieses Zimmer hat unser Philipp eingerichtet,“ erzählte der alte Landmann in der Freude seines Herzens. „Er meinte, man müsse die Mutter auf ihre alten Tage pflegen, und wenn einmal ein Besuch von dem Schlosse käme, könne man ihn doch nicht in einer Gesindestube empfangen. Und er hatte Recht, denn der selige

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verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 506. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_506.jpg&oldid=- (Version vom 10.11.2016)