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verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

noch lange nicht so viel, als die einzige Times, welche auf die geschickteste Weise alle Pläne der Regierenden, der großen Grundbesitzer und Kapitalisten, durchzusetzen und mit „Recht, Großmuth und Christenthum“ zu beschönigen weiß.

Jede Nummer einer politischen Zeitung muß mit einem Regierungsstempel, der jedesmal 1 Penny kostet, versehen werden. Die Times brauchte im zweiten Quartale dieses Jahres allein 3,976,720 Stempel, alle andern politischen Tageszeitungen zusammen aber nur 1,665,094, so daß die Stimme der Times allein alle andern politischen Organe mit einem 2,311,626fachen Uebergewicht schlug. Sie ist die Stimme des großen Kapitals und des großen Grundbesitzes und hat alle Verletzungen des europäischen Gleichgewichts seit 1815, alle Vergehen gegen das europäische Staaten- und Völkerrecht und alle Eroberungen Rußlands gutgeheißen, unterstützt und begünstigt. Vielleicht war ihre Beschönigung der letzten russischen Eroberung – in Dänemark, das Londoner Protokoll – eine ihrer höchsten und letzten politischen Preßthaten auf Rechnung Rußlands. Sie ist jetzt geschlagen, geschlagen wie das ganze Heer der Könige im Ober- und Unterhause und mußte seit Monaten den Krieg gegen Rußland predigen, rühmen und anfeuern, nachdem sie alle ihre Künste erschöpft hatte, Verachtung vor der Türkei und Furcht und Hochachtung vor Rußland zu verbreiten. Der Krieg ist eine Macht über den sechs Großmächten (die Times bildet nicht die letzte) geworden. Die Mächte des Friedens und der Civilisation, welche einst die Kriegsfurie bändigen und binden werden, sind wohl noch nicht Mitglieder des Unterhauses. Sie bilden sich erst, unabhängig von den jetzigen Mächten und Interessen. Wenigstens würde der Friede, der durch die jetzt herrschenden Interessen Englands dictirt und vollzogen zur Geltung käme, sich über ein Kleines nur als Waffenstillstand erweisen.

Die Zeitverhältnisse und die merkwürdige Situation der regierenden Klassen in England zu denselben nehmen uns die Ruhe, die architektonische Schönheit und Größe ihres parlamentarischen Tempels gehörig zu würdigen. Wir begnügen uns deshalb, auf die Totalansicht in Nr. 6 der Gartenlaube und die beifolgende hinzuweisen und auf die einzelnen Bestandtheile der großartigen, architektonischen Composition aufmerksam zu machen. Die genaue, sorgfältige Ausführung der kleinsten Theile bei den großartigen Ausdehnungen der Säulen, Pfeiler und Bogen macht einen imposanten Eindruck, der aber nicht mit dem Charakter des alten, echten gothischen Styls harmonirt, da letzterer vom Einzelnen in’s Große, vom Irdischen ab und auf in ein weites, himmlisches Jenseits strebte und die Materie, das Detail, die Befriedigung an demselben negirte und aufhob. Hier im Parlamentsgebäude hält uns die Pracht und sorgfältige Technik des Einzelnen fest, so daß im großartigsten gothischen Bauwerke der neuen Zeit sich der alte, religiöse Charakter dieses Styls gleichsam auf den Kopf stellt. Indessen flößen die langen, schlanken Säulen, die sich weit oben in Spitzbogengruppen verzweigend einigen, ziemlichen gothischen Respekt ein. Die Felder zwischen den Spitzbogen sind dicht überladen mit heraldischen Ornamenten, mit Wappen und andern Zeichen mittelalterlicher Herrlichkeit, die in dem gothischen Parlaments-Tempel ihre feudalistischen Privilegien noch gegen die modernen Ritter der Baumwolle und des industriellen Eisens wacker zu vertreten und zu conserviren weiß. Der Himmel hängt hier nicht voll „westlicher Civilisation“ und Zukunft und moderner Kultur, sondern voll Vergangenheit, die in andern, weniger freien Ländern schon längst begraben liegt und allen Wiederbelebungsversuchen einen hartnäckigen Tod entgegenstellte. Zwischen den Fenstern und den Thürbogen höhlen sich Nischen, die sich innen reichlicher mit entsprechenden Statuen füllen. Sie werden zu Hunderten von einem begünstigten Bildhauer fabrikmäßig gemacht und stellen den lebenden Privilegirten die todten Muster und Vorbilder der alten, guten, hohen Gesellschaft vor, welche noch muthig fortleben in 5,600,000,000 Thalern Kriegsschulden, die sie dem Lande hinterlassen haben, um überall in Europa bald da, bald dort, Privilegien und Monopole politischer Art aufrecht zu halten oder wieder aufzurichten. Das Meiste verwandte man für die Bourbonen gegen Napoleon, mit dessen Enkel sie jetzt Hand in Hand in treuer, jubelnder Freundschaft als Vertreter und Kämpfer der „westlichen Civilisation“ gegen asiatische Barbarei in den Krieg zu ziehen vorgaben.

Das Parlamentsgebäude, die Herren, die darin Gesetze geben, ihr Krieg, ihre Interessen sind Gewebe von Widersprüchen, die hier zum Theil angedeutet wurden, und welche die große Krisis und Kritik, die jetzt hauptsächlich als Krieg erscheint, wohl auch in England endlich zersetzen und zur Harmonie mit der jetzigen Kultur auflösen werden.




Kulturgeschichtliche Bilder.
4. Die Fortschritte in der Bequemlichkeit des städtischen Zusammenlebens.
Die Beseitigung der Festungswerke und ihre Vortheile für die Gesundheit, Wohnlichkeit und Annehmlichkeit der betreffenden Städte. – Störungen der städtischen Reinlichkeit und Behaglichkeit in frühern Zeiten durch das Sicheindrängen landwirthschaftlicher Beschäftigungen in die Städte. – Mangelhafte Pflasterungs- und Reinigungsanstalten. – Die Straßenbeleuchtung in der ältern Zeit. – Die Häusernummern. – Ein Gang durch eine Stadt im vorigen Jahrhundert.

Wir haben in unserer letzten Schilderung den Zustand der Landstraßen, der Reisegelegenheiten und des Briefverkehrs in einer frühern Zeit mit denen der Gegenwart verglichen. Heut wollen wir ein dem verwandtes Thema behandeln: die Bequemlichkeiten des städtischen Zusammenlebens sonst und jetzt. Wenn wir ein Bild einer unsrer größern Städte aus dem vorigen oder ehevorigen Jahrhunderte betrachten, so fällt uns davon vor Allem auf, wie damals die Ausdehnung der Stadt beschränkt, die Bequemlichkeit des Sichausbreitens, der Anbau von Gärten, die Anlegung öffentlicher Spaziergänge, freier Plätze oder schattiger Alleen gehemmt war durch die rings um die Stadt enschließenden Befestigungswerke, Wälle und Gräben, Bastionen und Thore. Der ursprüngliche Zweck der Anlegung von Städten war ja die gemeinsame Vertheidigung hinter Mauer und Wall und, obgleich seit der Erfindung des Pulvers und der Einführung der Feuerwaffen diese Schutzwehren viel von ihrem Werth verloren hatten, so dauerte es doch noch geraume Zeit, ehe man das Vermächtniß einer frühern Kulturperiode aufgab, die Scheidewand, welche die Städte vom offenen Lande trennte, niederriß und der städtischen Bevölkerung freien Raum zur behaglichen Ausbreitung und zur Gewinnung von allerhand, bis dahin entbehrten Bequemlichkeiten verschaffte. Erst die neueste Kriegskunst, welche überall mit großen Massen operirt und daher höchstens solchen festen Plätzen, welche einem bedeutenden Truppencorps als Stützpunkt oder Rückzugslinie dienen konnten, einen strategischen Werth beimißt, hat die Zwecklosigkeit der Befestigung solcher Orte, denen jene Bedeutung abgeht, völlig außer Zweifel gestellt und den gewichtigen Gründen Geltung verschafft, welche vom nationalökonomischen, kommerziellen und allgemein kulturhistorischen Standpunkte aus längst schon für die Beseitigung aller derartigen Festungswerke, für die Verwandlung der abgeschlossenen Städte in offene Plätze sprachen. Daher sehen wir nach den letzten französischen Kriegen sogar solche Städte, die mit besonderem Fleiß befestigt waren und sich auch wirklich bisweilen als nicht ganz verachtungswerthe Objekte einer militärischen Vertheidigung erwiesen hatten, wie z. B. Dresden, ihrer Wälle und Gräben entkleidet.

Wie sehr durch diese Veränderung die ganze Physiognomie der Städte sich verjüngen, wie groß der Gewinn sein mußte, den sie in Bezug auf Gesundheit, Wohnlichkeit und Annehmlichkeit aller Art daraus zogen, liegt auf der Hand und lehrt der oberflächlichste Blick auf ihre jetzige und ihre frühere Gestalt. Die bis dahin auf einem kleinen Raume eng zusammengepferchte Bevölkerung dehnte sich jetzt behaglich aus, indem sie sich ungehindert über die Vorstädte ausbreitete, die, nicht mehr durch Zwinger und Thore von der innern Stadt abgeschlossen, ja in mancher Beziehung noch größere Annehmlichkeiten des Wohnens darboten. Die Straßen und Plätze der innern Stadt selbst waren nun dem freien Durchzuge der frischen Luft geöffnet, welchen bis dahin die

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verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 569. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_569.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)