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verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

eiserne Hängebrücke, welche man bei Queenstown über den Fluß geschlagen, um von hier aus mehr dem fernen, dumpfen Donner der Wassermassen zu lauschen, als ihn zu sehen. In der That war nichts zu sehen, als eine wilde, wüste, tiefe, unheimliche Wassermasse in Dampf und Nebel gehüllt. Desto furchtbarer, desto grausenhafter und erhabener war das ruhige, dumpfe, seit vielen Jahrtausenden ununterbrochen donnernde Rauschen, das nichts von seiner dämonischen Kraft und Jugend verloren hat, während Hunderte und aber Hunderte von Menschengeschlechtern aufblühten und zu Staub und Asche wurden. Die Ufer an beiden Seiten fallen steil tief hinab, hier und da mit Baum- und Buschwerk bekleidet, an manchen Stellen vom obersten Rande bis zum Bette unten 400–500 Fuß tief.

Die Geologie hat nachgewiesen, daß die Fälle einst 11/2 deutsche Meilen weiter unten waren. Hier hat sich sonach das Sprichwort von dem Tropfen, der einen Stein aushöhlt, im großartigsten Maßstabe bewährt. Die Wasser haben festen Kalkfelsen 11/2 Meilen lang, eine halbe Stunde breit und 5–600 Fuß tief im Laufe von Jahrtausenden weggemeiselt. Weiter oben nach den Fällen zu fing der bisher lichtgrüne, ruhige Guß an zu kochen und zu wirbeln. An einer besonders engen Stelle bildet die gewaltig drängende Masse, die sich nicht schnell genug Platz verschaffen kann, fortwährend einen etwa 10 Fuß hohen Kegel, um welchen hineingeworfene Gegenstände oft Wochen lang in unablässiger Wuth getrieben werden. Ein Herr, der sich zu mir gesellte, erzählte mir, daß unlängst die Leichen von zwei englischen Deserteurs, welche weit oberhalb der Fälle über den Fluß hätten schwimmen wollen, von dem Sturze gepackt, hinabgeschleudert und hier über drei Wochen lang ununterbrochen um den Kegel herumgetanzt seien, als erfreuten sie sich da unten der übermüthigsten Lebenslust.

Das größte Naturwunder war dem nüchternen Amerikaner lange ein Dorn im Auge: er konnte ja mit seinen Schiffen weder von dem Erie in den Ontario hinab, noch aus letzterem in ersteren hinaufsteigen. Jetzt geht’s freilich desto besser und zwar mit einem jährlichen Gewinn von 350,000 Thalern durch die Thore des Welland-Kanals, der vom Port Dalhousie am Ontario sich durch 56 Schleusen aus Port Colborne in den Erie erhebt. Der Kanal reicht jetzt schon nicht mehr hin, um alle die Schiffe hinauf- und hinabzulassen, so daß die Regierung der vereinigten Staaten einen zweiten auf ihrer Seite ausgraben läßt. Der Welland-Kanal ist ein Werk der englischen Canadier.

Durch Wiesen, Baum- und Buschwerk, niedliche und prächtige Farms, reinliche, grasende Kühe, brachte mich endlich mein schwarzer Kutscher bis in die Nähe der berühmten Fälle, die ich – unromantisch genug – zuerst durch die schmutzigen Scheiben der Droschke erblickte. Auch beim Aussteigen blieb ich eigennützig genug, um einem langen Kerle nachzulaufen, der meinen Koffer von der Droschke raubte und ihn ohne Complimente in eins jener riesigen Hotels trug, denen man in Amerika fast eben so oft begegnet, als in Deutschland niedrigen Hütten. Eliston-House nannte sich das Ungeheuer mit mehr als 500 Zimmern und Betten und einem Speisesaale, wo man an dem einen Ende kaum das andere sehen konnte. Es ist das Eigenthum eines Deutschen, A. Zimmermann, der für sein Privatvergnügen noch ein besonderes Palais mit Park und Blumengarten bewohnt. Die Kellner sprachen in allen Zungen der Welt und schillerten in allen Farben vom tiefsten Schwarz durch Schinkenbraun, Indianerroth, Mulattengelb bis zum vollständigsten Milch und Blut jungfräulicher, deutscher Jugend.

Doch was ist das Alles gegen diesen Anblick und diesen festen, dröhnenden, dumpfen, immer im gleichen Tone unermüdlich seit Jahrtausenden her und in künftige Jahrtausende hineinbrausenden Donner! Wie soll ich den Eindruck schildern! Man hat die Niagara-Fälle in allen Sprachen und Tonarten oft genug beschrieben und besungen. Am Häufigsten und Leichtesten ist eine Anhäufung von poetischen Bildern und Interjektionen, von Gefühlsausbrüchen und Entzückungen. Damit befriedigt aber nur Der, welcher das Wunder wirklich sah und seine furchtbare Wirkung in sich zittern fühlte, sein eignes Ich. Wenigstens bleibt es immer sehr fraglich, ob man den Leser durch die gelungenste, wahrhaft empfundene Schilderung mit sich fortreißt und ihm eine richtige Vorstellung gebe.

Jedermann weiß, daß die Niagara-Katarrhakte in zwei Haupttheile zerfallen, welche durch die Ziegeninsel getrennt werden, den hufeisenförmigen auf der kanadischen Seite und den amerikanischen. Die Windung des Flusses drüben bringt den amerikanischen beinahe in einem rechten Winkel dem Beschauer gegenüber. Und das ist der Hauptgrund, weshalb man das ganze Wunder von der kanadischen Seite am Vortheilhaftesten auf sich wirken lassen kann, wiewohl auch der Umstand, daß man sich hier mit dem Haupte der Fälle in einer Linie befindet und hinunter sehen muß, eine optische Täuschung hinsichtlich der Tiefe hervorruft und so die erhabene Größe und Schönheit der Erscheinung schwächen mag. Doch bleibt mehr, als genug, um uns in allen Nerven und Fasern zu packen, zu erheben, auszudehnen und unser engbegrenztes Wesen auf die entzückendste Weise mit den heranjagenden Wassermassen hinunterzustürzen und mit ihnen in eine Unendlichkeit von Wasserstaub aufzulösen. Wie ich so, zufällig ganz allein, auf einem Felsenstück dicht am Rande da saß, die Wasser immerwährend heran- und hinunterstürzen und in Staub zerschmettern sah, glaubte ich immer mit hinuntergerissen und zerschmettert und über die ganze Welt versprüht zu werden, glaubte ich, hier sitzen bleiben und mich so auflösen lassen zu können. Und so verlor der Tod hier ganz seine Schrecken, und so erfuhr ich hier vielleicht zum ersten Male in meinem Leben den vollen ganzen Begriff und die göttliche Gewalt dessen, was der Aesthetiker mit vieler Mühe als „das Erhabene“ philosophisch begreiflich zu machen sucht. Die Mittel, welche diesen Eindruck anzeigen, grenzen auch schon an das Erhabene.

Durch genaue Messungen hat man gefunden, daß jede Minute 19,500,000 Cubikfuß Wasser in einer Tiefe von 20 und einer Breite von 4125 Fuß, auf der canadischen Seite 158 und auf der amerikanischen 164 Fuß tief herabstürzen. Die Breite dehnt sich also mit Einschluß der grünen Ziegeninsel etwa ein Fünftel deutsche Meile aus.

Eine halbe Stunde abwärts von den Fällen spannt sich wieder eine riesige Eisenbrücke wie ein feines Gewebe über den Fluß. Von der Mitte dieser Brücke aus ist der Blick auf die donnernden Schaummassen vor und die gepeitschten Wogen unter uns vielleicht der gewaltigste und erhabenste, den uns die Natur überhaupt bieten kann. Man steht wie ein Atom ohne Schwere, ohne Körper, ruhig wie ein Gott, auf Luft und Schaum – die luftige Brücke brachte mich hinüber nach Amerika und zwar nach Manchester. Dieser Name allein setzte mich wieder plötzlich derb auf die Erde. Die sich dicht neben dieser gewaltigsten Naturerhabenheit neubildende Stadt soll also Manchester heißen. Den Amerikanern haben also diese 19 Millionen Cubikfuß Wasser jede Minute umsonst gedonnert. Sie wollen ein Mühlrad über die Niagara-Katarrhakte setzen und damit 19 Millionen Baumwollenspindeln drehen. Sehr praktischer aber auch sehr kattuner Gedanke!

Die amerikanischen Leute von Manchester und Callicoe haben eine Brücke nach der Ziegeninsel hinüberschlagen lassen, um Jedem, der dieses originellste Stück Erde besuchen will, 25 Cents abzunehmen. Jeder giebt hier gewiß seinen letzten Heller hin, um in diesem Inselwalde zwischen den beiden Katarrhakten zu wandern, vorn am Abgrunde eine steile, hölzerne Treppe hinunter zu steigen und auf engen Felsenpfaden 50 Schritt weit hinter den herabstürzenden Wogen zu verschwinden und zuletzt über eine Brücke nach dem einsam aus einem Felsen mitten aus der stürzenden Wasserwuth sich erhebenden Thurm zu klettern, um sich einen letzten, großen, umfassenden Eindruck in die Seele zu prägen. Die sinkende Sonne goß ringsum weit in unbegrenzte Fernen ihr himmlisches Gold auf den weißen Schaum und alle Höhen und Flächen der großen, unfaßbaren neuen Welt herab, als ich zögernd den letzten Blick von einem Naturbilde zurückzog, welches die geologische Bildungskraft der Erde wohl nur einmal zu erzeugen im Stande war.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 583. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_583.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)