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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855)

Aeltern dem Zufalle, wie sich die Sinne und frühesten Geistesfähigkeiten des Kindes ausbilden und entziehen dadurch demselben für die Folge eine Menge von Bildungsmaterial, sowie von Lebensfreuden. – Der Gesichtssinn verlangt ganz besonders eine zweckmäßige Uebung und zwar nicht blos in Bezug auf den Umfang des Sehens, daß man nämlich sowohl nahe als ferne Gegenstände mit der mäglichst größten Deutlichkeit erkennt, sondern auch in Bezug auf die Schärfe, Schnelligkeit und Ausdauer, mit welcher man zu sehen vermag. Man lasse deshalb das Kind im Freien ferne, bald größere, bald kleinere Gegenstände mit den Augen erfassen und verfolgen, gewöhne dasselbe einzelne Gegenstände (Bilder, Spielzeug, Thiere, Pflanzen u. s. w.) ordentlich und mit Aufmerksamkeit, in verschiedener Entfernung und Stellung, anzusehen, und später auch bei kürzerem Anschauen schnell wieder zu erkennen. – Der Gehörsinn ist in Bezug auf Schärfe (schwache und entfernte Töne zu hören) und auf Feinheit (hohe, tiefe, reine und falsche Töne zu erkennen), sowie auf Richtung und Entfernung des Schalles zu üben. Man leite deshalb das Kind an, mit Aufmerksamkeit zu hören und errege Lust an Musik und Gesang in ihm. – Der Geruchsinn läßt sich recht wohl auch durch Uebungen im Erkennen und Unterscheiden von verschiedenen riechenden Stoffen verfeinern und schärfen, so daß er später besser ebensowohl zum Wohle wie zum Vergnügen des Menschen gebraucht werden kann. – Die Uebungen des Geschmacksinns dürfen nicht zu zeitig und mit zu verschiedenartigen wohlschmeckenden Stoffen vorgenommen werden, weil sie sonst zur Leckerei, Nascherei und Gutschmeckerei führen. – Der Tastsinn, welcher seinen Hauptsitz in den Fingerspitzen hat, kann schon zeitig insoweit geübt werden, daß er zum Erkennen heißer, stechender und schneidender Gegenstände vom Kinde benutzt wird. Später sind aber zweckmäßige Tastübungen (mit geschlossenen Augen) zum Unterscheidenlernen der verschiedenen fühlbaren Eigenschaften der Körper und so zur Bildung eines feinen Tastsinns vorzunehmen. – Das Allgemeingefühl (Empfindungsvermögen) ist bei der Erziehung des Kindes nicht außer Acht zu lassen und zwar hauptsächlich in Bezug auf Beherrschung unangenehmer Empfindungen zu üben. Die Erzieher müssen dazu freilich selbst dem Kinde ein gutes Beispiel geben, häßliche und abstoßende Thiere angreifen und dem Kinde angreifen lassen, sich nicht über Alles gleich entsetzen und ekeln, bei Ueberraschungen Ruhe behaupten und nicht außer sich gerathen. Man bedenke, daß der Nachahmungstrieb beim Kinde so groß ist, daß es sehr schnell ebenso das Gute wie Schlechte seiner Umgebung angewöhnt, selbst das Heiter- und Mürrischsein u. s. f. Man hüte sich auch, bei jedem Stoße oder Falle, bei Verletzungen oder Unwohlsein des Kindes in lautes Jammern und Wehklagen auszubrechen, das Kind zu bemitleiden und leidenschaftlich zu liebkosen; man beachte lieber viele dieser Zufälle gar nicht, lache darüber oder rede dem Kinde nur ganz ruhig zu. Ebenso suche man die Verdrießlichkeit und Uebellaunigkeit eines gesunden Kindes nicht etwa durch Reiz – oder Beschwichtigung zu verscheuchen, wohl aber durch unterhaltende Beschäftigung (weil die Langeweile sehr oft die Quelle von Mißstimmung und Launenhaftigkeit ist), durch Nichtbeachtung oder Strafe. Selbst beim Kranksein des Kindes taugt das stete Bekümmern um dasselbe nichts, während das ruhige Liegen im Bette heilsam ist. Durch übertrieben ängstliche Liebkosungen ist bei einem kranken Kinde das Uebel nur schlimmer zu machen.

Die Haupttugend eines Kindes, welche ihm in diesem Lebensalter schon anerzogen und zur andern Natur werden muß, ist das Gehorsamsein, da dieses einen festen Grund für die spätere Erziehung legt und diese also sehr bedeutend erleichtert. Freilich läßt sich der Gehorsam dem Kinde nur durch die consequenteste und gleichförmigste Behandlung und Gewöhnung an das Gehorchen beibringen, auch versteht es sich, daß Erzieher hierbei mit gehöriger Umsicht, nicht etwa nach zufälliger Laune verfahren. Man verbiete Nichts, was man nicht wirklich hindern kann, und niemals im Scherze oder mit Lachen, sondern ruhig und mit wenig Worten; was dem Kinde einmal befohlen wurde, muß es vollziehen, und jedem Verbote muß es sofort Folge leisten; was sich ferner das Kind nicht angewöhnen soll, aber doch thut, darf nicht blos manchmal, sondern muß stets verboten werden, bis ihm endlich dieses frühere Thun und Treiben fast unmöglich wird. Vorzüglich ist bei Kindern mit lebhaftem Temperamente die größte, aber ruhige Strenge und Consequenz beim Gehorsamüben anzuwenden. Am Allerwenigsten dürfen Erzieher den Gehorsam des Kindes erbitten und erschmeicheln wollen. – Mit Hülfe des Gehorsams können und müssen zuvörderst nun die Kinder zum rechten (zur Moral) gewöhnt werden, so daß sie schon zu der Zeit, wo sie in Folge der Sinneseindrücke ihr Ich von der Außenwelt getrennt zu fühlen gelernt haben und zum Selbstbewußtsein gelangt sind (im 3ten oder 4ten Jahre) eine gute, moralische Grundlage durch bloße Angewöhnung haben, auf welcher nun mit Hülfe des wachsenden Verstandes fortgebaut werden kann. Der Mensch, welcher aus Gewohnheit gut ist, bleibt bescheiden, weil er glaubt, daß er gar nicht anders sein könne, als er eben ist. Während man Alles, was man gewöhnlich Unterricht und Lernen nennt, vor dem 7. Jahre ganz unterlassen sollte, ist dieses gerade die für die Ausbildung des moralischen Menschen und eines ehrenwerthen Charakters wichtigste Periode. Denn jetzt läßt sich noch mit leichter Mühe dem kindlichen Gehirne durch richtige Gewöhnung das Gefühl für Rechtes und Gutes so einimpfen, daß dieses für die ganze Folgezeit darin eingewachsen bleibt. Aber dann dürfen die Aeltern freilich dem Kinde keine Lüge und Veruntreuung, keinen Trotz und Eigensinn, keine Selbstsucht und Unsittlichkeit, kurz keinen Fehler, den sie vom Kinde fern zu halten wünschen, nachsehen, sondern müssen alle solche Vergehungen jedesmal unerbittlich bestrafen. Sobald sich Aeltern jedoch über die possirlichen Unarten ihres Kindes noch freuen, demselben nichts versagen können und die Erziehung so wie Bestrafung bis zu der Zeit verschieben wollen, wo, wie man zu sagen pflegt, beim Kinde der Verstand kommt, da steht für Aeltern und Kind eine traurige Zukunft bevor. Die Strafe, die natürlich dem Temperamente des Kindes angepaßt werden muß und bei vielen Kindern gar nicht in Schlägen (obschon diese in den meisten Fällen gar nicht zu entbehren sind) zu bestehen braucht, sei ein Zuchtmittel, welches nur so lange anzuwenden ist, als das Kind noch kein ausgebildetes Selbstbewußtsein hat, also in den drei ersten Lebensjahren. Nach dieser Zeit sollte ein Kind bei dem jetzt vorhandenen Verstande so gehorsam sein, daß nur noch sanfte Ermahnungen zu seiner weitern Erziehung hinreichten. Ich behaupte: ein Kind, was nach dem 4ten Jahre noch Schläge verdient, ist ein verzogenes; ein Kind darf sich gar nicht bis zu der Zeit zurück erinnern können, wo es Schläge bekam, Ebenso wie durch Strafe sollte aber Erziehung durch Belohnung auch nur in den Jahren der Kindheit stattfinden, wo das Kind seiner noch nicht ganz selbstbewußt ist, denn wer mit Bewußtsein Rechtes und Gutes nur der Belohnung wegen thut, ist ein erbärmlicher Mensch. Es drückt die Erwartung einer Belohnung dem guten Benehmen und der Folgsamkeit des Kindes den Charakter des Eigennutzes und der Käuflichkeit auf. Ein liebevolleres Benehmen der Aeltern gegen das folgsame Kind muß für dasselbe die schönste Belohnung sein. Ebenso kann auch das stete Beloben dem Kinde leicht schaden und die Natürlichkeit in seinem guten Benehmen in Eitelkeit und Ehrsucht umwandeln. Selbst mit den Liebkosungen müssen Aeltern vorsichtig sein, denn sind sie zu heftig und leidenschaftlich, so kann das Kind sich recht leicht eine ähnliche Leidenschaftlichkeit angewöhnen oder, wenn die Liebkosungen in den spätern Jahren ruhiger und kleinern Geschwistern zugewendet werden, sich für zurückgesetzt halten. Was das Strafen betrifft, so ist hierbei mit großer Umsicht zu verfahren. Zunächst muß jede Strafe, wenn sie wirksam sein soll, vorher angedroht sein und darf sich nur auf einen genau bestimmten Fall beziehen, sie muß in diesem Falle aber stets erfolgen, niemals aber im Zorne und überhaupt in großer Aufregung. Man glaube ja nicht, daß eine Verstärkung der Strafe besser zum Ziele führt. als eine mildere und behalte deshalb für jedes Vergehen seine bestimmte Strafe bei. Nach überstandener Strafe sei sofort das Frühere vergessen, man drohe nicht weiter, sondern verzeihe dem Kinde vollkommen, nehme an, es sei gebessert. Ein ganz falsches Benehmen gegen das Kind, besonders wenn es gefehlt hat, ist das hämische, ironische, weil es der Offenheit Eintrag thut und dem Kinde als liebloser Scherz erscheinen könnte. Es lassen sich übrigens dem Kinde eine Menge Strafen ersparen, wenn man demselben gleich von der ersten Jugend an die Gelegenheit sich Falsches anzugewöhnen entzieht und dafür das Rechte angewöhnt. So läßt sich z. B. dem Kinde Achtung vor dem Eigenthume Anderer dadurch beibringen, daß man ihm nicht alle Gegenstände, die es wünscht und die Anderen gehören, dagegen aber sein eigenes

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 121. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_121.jpg&oldid=- (Version vom 28.2.2023)