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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855)

„Zuvor beantwortet mir jetzt die Frage, ob Ihr eine Klage über Eure Behandlung habt?“

„Eine Klage, Herr Kreisjustizrath? Gott behüte. Nicht eine, aber zehn, zwanzig, hundert.“

Er antwortete nicht aufgeregt, im Gegentheil mit derselben Ruhe, mit der er eingetreten war.

„Und wie lauten diese Klagen?“

„Traurig lauten sie. Sie zerreißen mein Herz, möchten sie doch auch zerreißen das Ihrige.“

„Nun?“

„Herr, ich sitze hier seit fünf Vierteljahren. In dem Keller da unten. In dem dunkelen Loche unter der Erde. Fünf Vierteljahre. Soll ich Ihnen sagen, wie oft ich in dieser Zeit gesehen habe die Sonne und geathmet habe die frische Luft? Ich will es Ihnen sagen. Zwei Mal. Zwei Mal, als ich wurde geführt aus dem Keller zum Verhöre.“

Nur zwei Verhöre waren in der That bisher mit dem Juden abgehalten.

„Aber,“ warf ich ihm ein, „Ihr seid doch regelmäßig täglich eine halbe Stunde an die frische Luft geführt worden.“

„Daß sich Gott erbarm! Es war ja keine Zeit dazu übrig für die Herren Wachtmeister.“

Ich sah fragend den Secretär an, der mir das Protocoll führte. Er bestätigte mit einem Achselzucken.

Die Gefängnisse und das Gefängnißpersonal sind auf funfzig Gefangene berechnet. Einhundert und funfzig sind da. Da bleibt keine Zeit für die allerdings vorgeschriebenen Spaziergänge der Gefangenen.

„Aber das ist ja eine Grausamkeit. Ich habe Gefangene angetroffen, die seit länger als drei Jahren saßen. Auch diese sind nie an die frische Luft gekommen?“

„Zum Verhöre!“ war die entschuldigende Antwort.

„Grausamkeit!“ sagte der Jude. „Was heißt Grausamkeit? Weiß der Herr, daß ich in den fünf Vierteljahren nicht habe sehen dürfen meine Frau und mein Kind, und sie waren hier, fünf Mal, alle Vierteljahre ein Mal.“

Auf meinen fragenden Blick antwortete der Secretär: „Der Jude hätte collidiren können.“

Der Jude fuhr fort: „Grausamkeit? Und weiß der Herr, was man mir hat gegeben zu essen und zu trinken? Brot zu essen, nichts als schwarzes Brot und Wasser zu trinken. Nichts als das, gar nichts.“

„Jude,“ fiel ihm der Secretär ein, „belüge den Herrn Kreisjustizrath nicht.“

„Habe ich bekommen etwas Anderes? Einen Mund voll? Einen halben Mund voll?“

„Du hast freiwillig Brot und Wasser gewählt. Gieb den Grund an, warum.“

„Ich soll Ihnen sagen, warum, Herr Kreisjustizrath. Durfte ich denn essen die Gefangenkost? Sie war nicht kauscher. Das Gesetz verbietet sie.“

Ich musste mit einer Art von Bewunderung den Juden ansehen, der fünf Vierteljahre lang, um einem von Tausenden seiner Glaubensgenossen nur noch verspotteten Gesetze nicht entgegen zu handeln, nichts als Wasser und Brot genossen hatte, und dessen Aussehen doch bezeugte, daß ihm früher der Genuß einer wohlbesetzten Tafel, wie die vermögenden Juden an der russischen Grenze sie bekanntlich lieben und führen, nicht fremd gewesen war.

Er fuhr fort: „Aber das war nicht die Grausamkeit, Herr. Auch nicht einmal einen Hering ließen sie mir zukommen. Ich hatte gebeten darum, nur einmal in der Woche, am Schabbes. Meine Frau sollte ihn bezahlen, doppelt, dreifach. Ich bekam ihn nicht. Die Herren Referendarien lachten mich aus.“

„Warum das?“ fragte ich den Secretär.

„Das Reglement schreibt genau die Gefangenkost vor. Ein Hering wird nicht erwähnt.“

„War das in der That ein Grund?“

Der Secretär zuckte wieder die Achseln: „Die Herren Inquirenten ordneten es so an. Ausnahmen können nur vergünstigungsweise gestattet werden. Der Jude leugnete hartnäckig.“

„Gottes Wunder, ich sollte lügen, ich sollte mich lügen auf das Zuchthaus, an den Galgen, um einen Hering zu verdienen.“

Ich unterbrach ihn. „Legt Ihr Gewicht auf den Hering, Schlom?"

„Gewicht, Herr? Ich lege Gewicht nur auf das Recht, auf meine Freiheit. Lassen Sie mich gehen nach Hause, zu meiner Frau und meinem Kind; ich will keinen Hering.“

„Ihr täuscht Euch über Eure Lage; Ihr seid in eine weitläufige Untersuchung verwickelt, die noch Jahr und Tag dauern kann.“

„Das haben sie mir gesagt alle, alle die Herren Referendarien. Aber Sie sind der Herr Kreisjustizrath, der Herr Rath des Rechtes. Sie werden mich lassen frei. Was geht mich die Untersuchung an? Was habe ich denn verbrochen? Sie haben gelesen die Acten. Sagen Sie es mir.“

„Man hat Euch mit einem gestohlenen Pferde ertappt."

„Ertappt? Wunder Gottes! das steht in den Acten? Die Acten lügen, Herr.“

„Der Dorfrichter von Mädischkehmen hat die amtliche Anzeige gemacht."

„Gott strafe ihn, den Hund! Gott hat ihn schon gestraft.“

Der Jude war plötzlich in große Aufregung gerathen. Sein bleiches Gesicht röthete sich. Sein Blick sprühte Wuth. Doch wußte er sich bald zu mäßigen.

„Verzeihen Sie," fuhr er ruhiger fort. „Aber die Acten lügen, dabei bleibe ich. Das war eine schändliche Geschichte. Ertappt? Ich will Ihnen erzählen, Herr, wie man mich hat ertappt, hier in Preußen. Herüber gelockt hat man mich über die Grenze, hinterlistig herüber gelockt. Was sage ich? Gelockt? Hinterlistig? Gewalt hat man mir angethan!. List und Gewalt! Der Dorfrichter von Mädischkehmen und noch Einer. Einen Brief ließen sie mir schreiben, ich solle kommen an die Grenze, nur bis an den Grenzgraben, nicht herüber nach Preußen. Es würden Preußen da sein, aus Tilsit, die wollten machen ein Geschäft mit mir in Seidenwaaren, ein erlaubtes Geschäft, ein reelles Geschäft. Ich ritt hin, ohne Arg. Des Morgens um vier Uhr war ich da, wie geschrieben stand in dem Briefe. Es war noch dunkel. Die Kosacken an der Grenze schliefen. Zwei Männer waren da, ich kannte sie nicht. Sie sahen aus, wie Herren, wie Herren aus der Stadt. Sie hatten bei sich die Seide. Schöne Seide, preiswürdig. Aber es war alles Betrug. Auf einmal springen vier Kerle heraus aus dem Grenzgraben, fallen über mich her, als ich besehe die Seide, fassen mich, schleppen mich über die Grenze, mit meinem Pferde, nach Preußen. Da steht der Dorfrichter von Mädischkehmen, und wartet schon, und wirft mir um einen Strick um den Hals und die Arme, und bindet mich auf mein Pferd, und führt mich zum Herrn Landrath und sagt, ich sei gekommen über die Grenze, und so habe er mich arretirt. Arretirt? Ertappt? Ich will sterben, wenn mich hat ertappt der Hund."

Es ermittelte sich erst später, nach Jahr und Tag, daß Schlom Weißbart, auf den die Polizei in Preußen fahndete, und der dies wohl wußte und sich daher hütete, die Grenze zu überschreiten, in der That auf solche Weise theils durch List, theils durch Gewalt auf preußisches Gebiet gebracht und hier verhaftet war. Damals ging aus den Acten nichts darüber hervor. Ich bemerkte dies dem Juden. Ich fragte ihn, ob er Beweise habe für seine Behauptung gegen die amtliche Anzeige des Dorfrichters.

„Der Dorfrichter ist todt,“ antwortete er. „Strafe Gottes.“

„Habt Ihr Niemanden von den Leuten gekannt, die Euch überfielen?"

„Niemanden.“

„Auch keinen von denen, die mit Euch handelten?“

„Keinen."

„Ihr werdet einsehen, daß Eure bloßen Behauptungen eine amtliche Anzeige nicht entkräften können.“

„Es ist mein Unglück."

„Zudem kommt am Ende wenig darauf an. Der Euch beschwerende Umstand bleibt: Ihr seid mit einem gestohlenen Pferde ergriffen.“

„Gottes Wunder, ist es ein Verbrechen, zu reiten auf einem gestohlenen Pferde, so muß in’s Zuchthaus halb Litthauen und Szamaiten. Ich habe geritten auf dem Pferde, aber ich habe es nicht gestohlen.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 244. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_244.jpg&oldid=- (Version vom 11.7.2017)