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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855)

No. 23. 1855.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redakteur Ferdinand Stolle. Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 121/2 Ngr. zu beziehen.


Die Doppelgängerin.
Von August Schrader


I.
Der Freund.

Das glänzendste Fest der römisch-katholischen Kirche ist das Frohnleichnamsfest. Brüssel bietet an diesem Tage einen wahrhaft magischen Anblick: die Straßen sind sorgfältig von Staub gesäubert und mit Blumen bestreut, die Balkons und Fenster der Häuser mit Kränzen, Guirlanden und Teppichen reich geschmückt, sind mit Zuschauern angefüllt, daß sie den Logen eines Theaters gleichen; in der Mitte der Straße bilden die Garden für die herannahende Prozession eine Gasse, und hinter dem Rücken der Krieger wogt das Volk, sonntäglich geschmückt, in dichtem Gedränge. Wie fest gebannt stehen die Neugierigen an ihrem Platze, den die Meisten schon vor Aufgang der Sonne eingenommen haben, um ihn desto sicherer zu erlangen.

Um neun Uhr erschüttert ein Kanonenschuß die Luft. Ein allgemeines Gemurmel der Zufriedenheit läßt sich vernehmen, denn dieses Zeichen kündigt an, daß die große Prozession die Kirche St. Gudula verläßt, um sich unter dem Geläute aller Glocken langsam durch die Stadt zu bewegen. Bald hört man die Musik und die frommen Gesänge, der Duft des Weihrauchs mischt sich mit dem Wohlgeruche der Blumen, und bei dem ehrfurchtsvollen Schweigen der Menge erscheint im strahlenden Ornate die hohe Geistlichkeit, gefolgt von Dominikanern, Kapuzinern und Karmelitern.

Der imposante Zug bewegt sich dem großen Marktplatze zu, wo vor dem alten Rathhause, das mit grünen Zweigen und Kränzen bedeckt ist, sich ein Altar erhebt. Unter den neugierigen Zuschauern, die in der Nähe dieses Altars Posto gefaßt, bemerken wir einen jungen Mann, der sich nicht nur durch sein Aeußeres, sondern auch durch sein freieres Benehmen von den Andächtigen seiner Umgebung unterscheidet. Er trägt einen höchst eleganten schwarzen Anzug, und verräth den Stutzer vom feinsten Geschmack. Da er den feinen Filzhut in der Hand trägt, bemerkt man sein sorgfältig coiffirtes braunes Haar, das sich in einem Toupet über der hohen Stirn erhebt. Sein schönes Gesicht mit einem schwarzen krausen Barte über der Oberlippe ist von der Hitze geröthet. Während alle andern Personen ehrfurchtsvoll des herannahenden Schauspiels harren, hat er sein goldenes Lorgnon an die Augen gesetzt, und prüft, mit der Ungezwungenheit eines Kenners, den Zug weiß gekleideter junger Mädchen, die Blumen streuend der Prozession vorangehen, und sich dann in Gruppen um den Altar stellen. Vier von ihnen tragen einen prachtvollen Teppich, den sie auf den Stufen ausbreiten.

„Adam!“ flüsterte er einem Manne zu, der neben ihm stand.

Adam hörte nicht sogleich, denn seine ganze Aufmerksamkeit war auf die vier Mädchen gerichtet, die sich knieend auf den Ecken des Teppichs niedergelassen, und die kleinen weißen Hände betend zusammengelegt hatten. Sie bildeten eine unaussprechlich reizende Gruppe. Es schien fast, als ob man die lieblichsten Geschöpfe zu diesem frommen Amte auserlesen hätte.

„Adam, Adam!“ rief lauter der junge Mann.

„Gnädiger Herr?“ fuhr wie erschreckt der Angeredete auf.

„Kennst Du das junge Mädchen, das links neben der ersten Stufe auf dem Teppich kniet?“

„Vielleicht!“

„Was soll das heißen?“

„Daß ich erfahren kann, wer sie ist, wenn ich mich jetzt in der Person täuschen sollte.“

„Du erhältst einen Friedrichsd’or, wenn Du sichere Nachricht bringst, und wirst sofort aus dem Dienste gejagt, wenn Du Dich als einen ungeschickten Teufel zeigst. Geh, ich gebe Dir Frist bis diesen Abend.“

Adam, ein kleiner hagerer Mann in einem blauen Livréerocke, lächelte so zuversichtlich, als ob er sagen wollte: halten Sie den Lohn bereit, ich werde ihn gewiß verdienen. Dann verschwand er im Gedränge, um gleich darauf in der Nähe des jungen Mädchens wiederzuerscheinen. Die Blicke des jungen Herrn ruhten unverwandt auf der lieblichen Erscheinung, und wahrlich, das Mädchen war völlig geeignet, die Aufmerksamkeit im hohen Grade zu fesseln. Bei dem Klange der Glocken, den Tönen der Musik und Gesänge, die sich mehr und mehr näherten, bei dem leisen Gemurmel der Betenden glich sie einem Seraph, der zur Verherrlichung des Festes vom Himmel herabgesendet. Ihr Haar, schwarz wie Ebenholz, fiel in schweren Locken auf die Schultern herab; ihre Stirn, weiß wie der zarteste Alabaster, schien das heitere Sonnenlicht widerzustrahlen, die schönen edel geschweiften Brauen schienen von der Hand eines Malers künstlich erschaffen zu sein; die gesenkten Augenlider mit den schwarzen Wimpern verhüllten einen feuchten, von himmlischer Bewegung erfüllten Blick; die kleine edel geschnittene Nase gab ihrem anmuthigen Profil jenen Charakter antiker Schönheit, den man nur selten noch auf der Erde findet. Ein ruhiges, kaum merkliches Lächeln, das zwar von der Seele ausgegangen, aber die Lippen noch nicht erreicht hat, verlieh dem rosigen Munde einen unbeschreiblichen Ausdruck von Keuschheit, Frömmigkeit und Milde. Das kleine runde Kinn gab diesem reifenden Gesichte die höchste Vollendung. Der mattweiße schlanke

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 293. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_293.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)