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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855)

Stiegen fremder Leute zu kehren. Madame Thibaudeau ist mit keinem angebornen Geschmack für Kehrbesen zur Welt gekommen. Man sagt zwar, daß Dichter ihre Vorliehe für Verse mit auf die Welt bringen, und Garköche einen gewissen Instinkt für Küchenherde; bei der alten Thibaudeau aber war es reine Berechnung, die sie bestimmte, sich zu ihrem Handwerke zu entschließen.

Früher war sie bescheidener Weise Hausmeisterin. Sie zog die Hausschnur in einem Hause, das in Paris in einer Gasse beim Temple liegt. Das ganze Haus hatten zwei Fabrikanten, zwei Juweliere inne. Nun hatte die Frau, in einem strengen Winter, den Einfall, ihren Ofen mit dem Kehricht zu heizen, den ihr Besen aufgetrieben hatte. Diese Idee war doppelt vortheilhaft. Sie bemerkte, daß das, was sie bisher als einen elenden Auswurf betrachtet hatte, vermischt mit Torf und Steinkohle ein ganz gutes Brennmaterial abgab. Dann als die schöne Jahreszeit kam, bemerkte sie ferner, daß beim Ausreiben ihres eisernen Küchenzeuges mitten zwischen dem davonfliegenden Staube etwas Hartes Widerstand leistete, das zuweilen gelb aufblitzte. Sie ließ diesen Ansatz examiniren, es war Gold. Madame Thibaudeau hatte den Stein der Weisen entdeckt, die Wissenschaft eines Nicolaus Flavel, eines Baracelsus und Balzaro enthüllt.

Nun pachtete sie das Auskehren der Häuser, wo Goldarbeiter wohnen, mit solchem Erfolge, daß sie ein kleines Vermögen zusammenscharrte; mit demselben unternahm sie dann gleichzeitig ein zweites Geschäft. Sie kaufte in der Nähe von Paris mehrere große Grundstücke, ließ gewisse Schweizerhäuschen daselbst aufbauen, nach denen die kleinen Bürger von Paris lüstern sind, die nun mitten in unserer flachen Umgebung jeden Sonntag singen können: „Hier will ich bleiben und in die Berge blicken.“

In einem andern Artikel habe ich Ihnen das Gewerbe eines Herrn Simon beschrieben, der die eigenthümliche ländliche Leidenschaft hat, seine Heerden nach Paris zwischen den vier Wänden seines Dachstübchens auf die Weide zu treiben, das er in einem fünften Stockwerke eines Hauses in der Vorstadt St. Denis gemiethet hat. Herr Simon hat sich seitdem über unsere Benennung „Schäfer im Zimmer“ beklagt und behauptet, er sei nur Tracteur! Meinetwegen! Ich benutze diese Berichtigung, um einige nähere Umstände zu denen hinzuzufügen, die wir schon bekannt gemacht haben.

Herr Simon geht als Bauer gekleidet; er trägt Holzschuhe und eine graue Blouse, und sieht also einem Hans Strumpf ähnlich. In seiner ganzen Schäferei habe ich keinen Schäferstab bemerkt, aber dafür ist seine Sprache ebenso blumenreich als im Waldgrund; Rosen und Honig fließen über seine Lippen mitten zwischen allerhand nicht minder parfümirten Vergleichungen. Für ihn sind die Idyllen der Tityrus und der Celadon ganz anständige historische Personen.

Als wir 90 Stufen gestiegen waren und in seinen Stall eintraten, standen wir vor Erstaunen stumm da; ich meinte in eine jener schönen Meiereien vom schottischen Hochland gerathen zu sein; Alles war so sauber und zierlich geordnet, wie in einer Liebhaberbibliothek; daß ich in einem Stalle war, konnte mir nicht einfallen.

Dieser Stall nun unseres Herrn Simon besteht aus zwei langen Räumen, die er in Viehstände eingetheilt hat, in Boxes, wie die Gentlemen sagen. In jeder solchen Abtheilung steht eine Ziege; im Ganzen zählte ich ihrer 52. Oberhalb des Kopfes des Thieres, wo gewöhnlich die Raufen für das Heu der Pferde sind, hat Simon eine Art Schrank angebracht; dieser ist aus weißem Holze, fein gewichst und gefirnißt und enthält das Futter der zarten Bestien. Die Inschriften in großen Buchstaben enthalten z. B. die Anzeigen: „Melie Morvangulotte. – Rübenfütterung für Frau von M…, die an der Leber leidet.“ – „Marie Noël, hier im Stalle geworfen im Jahre 1851. Aeltern: Johanna und Marius. – Jodheufütterung für den Sohn des Herrn O…, der an Blutarmuth leidet.“ – Und dann folgen die „besonderen Beobachtungen.“ Ich will Ihnen nicht all’ die Krankheiten aufzählen, die Simon mit Ziegenmilch kurirt, noch auch die wissenschaftlichen Benennungen wiederholen, mit denen er die Arzneien verhüllt, die er seinen Ziegen zu fressen giebt, die ihm als lebendige Apotheken dienen. Ich bin weder Arzt noch Chemiker, und kann daher über sein Verfahren, über seine Heilmethode nicht viel Entscheidendes sagen. Kurios ist diese ganze Heilanstalt und Schäferei jedenfalls.

Und jetzt will ich Sie mit Herrn Oscar Mithat Bekanntschaft machen lassen, der Schinkenknochen liefert. Er hat eine Handlung daraus gemacht und verfährt darin als gemachter Kenner, als Großhändler. Ich könnte Ihnen nun eine ganze statistische Abhandlung schreiben, um Ihnen zu sagen, daß man in Paris wenigstens zwei Drittel mehr Schinken ißt, als Schweine geschlachtet werden. Wenn man daher einen Schinken gegessen hatte, so ließ man die Knochen desselben für den Lehrjungen liegen oder für irgend Jemanden. Dieser trug den Knochen zum Fleischselcher und bekam dafür 2 Sous. Und nun tritt der Knochen seine neue Reise an und kommt wieder in den Handel. Daher suchte man den Schinkenknochen zu fabriziren, da der Fleischselcher den Schinken fabrizirt. Ein Schinken ist also in Paris ein bloßes Kunstwerk der Fleischselcherei, der Anatomie, das ein Jeder dieser Professionisten auszuführen im Stande sein muß. Mancher solcher Knochen circulirt also mehrere Jahre; jeden Morgen wurden sie geschmückt und geziert aus dem Laden getragen und kehrten Abends wieder nackt und geschunden heim.

Die schönen Tage aber für Lehrjungen und Laufburschen sind vorbei. Oscar Mithat liefert für 10 Sous das Dutzend solcher Schinkenknochen und ist im Stande, eine beliebig große Anzahl für den ganzen pariser Verbrauch zu liefern.

Und hiermit habe ich die Ehre, Ihnen den berühmten Eduard, den Entenfabrikanten, den Straßenschreier par excellence vorzuführen. Jedermann kennt Monsieur Eduard; ganz Paris hat bei den Zugängen der Theater einen Mann mit herkulischem Knochenbaue bewundert, seine Stentorstimme, sein anmuthiges Lächeln, wie er sechs Stunden lang heult: „Sehen Sie, meine Herren, was soeben erscheint“ und Ihnen dabei eine Scharteke verkauft, die seit zwei Jahren „vergriffen“ ist. Freilich kann nicht Jeder, der will, sich zum Entenfabrikanten aufwerfen. Man muß sein Publikum herbeilocken können. Monsieur Eduard nun hat keinen Concurrenten. Er verkauft seine kleinen Bücher, unter anderen ein kurioses Gesetzbuch: den „Codex der Portiere.“ Und nun hören Sie, wie sich Monsieur Eduard dabei benimmt: „Meine Herren, der Codex der Portiere, oder die Ruhe der Miether! Das müssen Sie ansehen, meine Herren, das müssen Sie kennen. Wenn sie einen schlechten Portier haben, schicken Sie ihn mir. Ich decke das Unrecht auf, ich bin der Cabrion der Pipelets, der Schrecken der Thürsteherseelen. Alle Schnüre der pariser Thür-Sultane sind mir schon überschickt worden, um mich damit aufzuhängen. Ich habe mit Verachtung darauf geblickt, denn ich will durchaus meinen Mitbürgern einen Dienst erweisen. Da sehen Sie also her, lesen Sie mir das; ich kann Ihnen damit die Haare zu Berge treiben. Kaufen Sie meinen Codex der Portiere; schon wenn Sie ihn in der Tasche tragen, muß Ihrem Portier die Gänsehaut packen; beim ersten Glockenzuge springt die Thüre auf, selbst nach Mitternacht etc.“ Außer dem Codex der Portiere hat Eduard und Monsieur Jaeglé, sein Verleger, noch eine Menge von kleinen Büchern, zu einem Sou das Stück, herausgegeben. Da giebt es einen Codex für Eheleute, einen Codex für den Arbeiter, einen für den Bedienten, einen andern für die Todten und einen für Alles. Unter einer sehr leichten Form hat der Mann die gescheidte Idee gehabt, unter dem Volke eine gewisse Kenntniß von Gesetzen zu verbreiten, die Jeder zu wissen vorgiebt und kein Mensch kennt.

Ich will Sie nicht mit dem Codex der Todten behelligen; den praktischen Nutzen desselben habe ich nie recht begriffen; vielleicht ist Ihnen der Codex der Portiere ebenso unangenehm; ich fürchte die Portiere wenigstens ebenso sehr, als den Tod und seine Todten. Aber der Codex des Arbeiters ist ein wirklich ernsthaftes Werk. In einem kleinen faßlich geschriebenen Werkchen hat Jaeglé alle Pflichten und Rechte des Arbeiters zusammengestellt. Er lehrt ihn sein Vaterland lieben, das Gesetz zu achten und sein Recht zu vertheidigen. Bis Dato haben immer nur die Kalender und Almanachs mit ihren Schwänken und Possen die sogenannten populären Aufklärungen enthalten. Wenn man aber in großer Menge und daher zu wohlfeilen Preisen die nothwendigsten Begriffe von Religion, Moral, Geographie, Geschichte, Gesetzgebung, Ackerbau, Gartenkunst etc. verbreiten würde, namentlich in Dörfern und kleinen Städten, so würde der gute Einfluß dieser Bücher sehr bald sichtbar werden.



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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 363. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_363.jpg&oldid=- (Version vom 21.6.2023)