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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855)

und nach verkaufen. Da starb die Mutter, und der Schmerz gesellte sich den Nahrungssorgen bei.“

„Hat denn der alte Herr keine Freunde gehabt?“ fragte Philipp, der mit Mühe seine Fassung erhielt.

„O gewiß, lieber Herr; aber was sind die Freunde in der Noth? Sie boten dem Bedrängten ein Almosen, wie man es einem gemeinen Bettler giebt. Herrn von Bornstedt war zu stolz, um es anzunehmen, er darbte lieber, als sich so tief zu demüthigen. Im Drange der höchsten Noth schrieb Anna an mich, ihren alten Lehrer. Sie setzte mich von ihrem Unglücke in Kenntniß und bat um Auskunft darüber, ob sich ihr in Leipzig keine Erwerbsquelle öffne, da sie eine geschickte Stickerin sei; sie habe erfahren, daß die Meßstadt vorzüglich der Ort sei, wo man derartige Produkte vortheilhaft absetze. Ich wußte, daß ein reichlicher Gewinn aus dieser Beschäftigung zu ziehen sei, und deshalb schrieb ich in der Freude meines Herzens, daß Herr von Bornstedt mit seinen Kindern gleich kommen möge. Vater und Tochter betraten Leipzig als blutarme Leute, die Reise hatte die letzten Habseligkeiten verschlungen. Meine Gefühle bei diesem Wiedersehen kann ich Ihnen nicht schildern, lieber Herr; ich sage Ihnen nur, daß ich den niederträchtigen Freund, einen Edelmann, noch im Grabe verwünsche, der ein solches Unglück angerichtet hatte. Mein ehemaliger Brotherr ward nun mein Gast, und ich arbeitete täglich einige Stunden länger, um die vermehrten Ausgaben bestreiten zu können. Leider ist die Feder heutzutage ein schwaches Werkzeug, und ich gerieth trotz meiner Anstrengungen bald in Schulden. Die gute Anna fand Anfangs nicht gleich Arbeit, und als sie endlich nach Wochen Aufträge erhielt, ward ihr nur so wenig Lohn dafür, daß sie kaum davon leben konnte. Ich wollte meine eigene Armuth verbergen; aber da ließ mir eines Tags ein Gläubiger meine Bibliothek abpfänden, und die guten Leute wußten nun Alles. Seit dieser Zeit weigerten sie sich, irgend etwas von mir anzunehmen, Anna arbeitete und darbte, und sorgte heimlich noch für meine Kinder!“

„Sagten Sie nicht, daß Anna noch einen Bruder habe?“ unterbrach Philipp den Erzähler.

„Ganz recht! Der junge Mann hat in Breslau schon die Familie verlassen, um auf seine eigene Faust etwas zu unternehmen. Er will Unterstützung senden, sobald er kann. Wie man vermuthet, ist er nach Berlin gegangen. Es ist ein Jahr verflossen, und noch hat er nichts von sich hören lassen. Doch hören Sie weiter, das Unglück der armen Menschen ist noch nicht zu Ende. Vor vierzehn Tagen mache ich mit dem alten Herrn eine Promenade. Da begegnet uns ein Advokat, er grüßt Herrn von Bornstedt und freut sich unendlich ihn in Leipzig zu sehen. Nach einem kurzen Gespräche entfernt er sich wieder, indem er dem bekümmerten Greise herzlich die Hand drückt. Woher sich diese Bekanntschaft datirt, weiß ich nicht, und ich wollte auch nicht darnach fragen, weil ich bemerkte, daß dieses unverhoffte Begegnen einen peinlichen Eindruck auf meinen alten Freund ausgeübt hatte. Am folgenden Morgen ward der arme Herr von Bornstedt wegen einer alten Wechselschuld von dreihundert Thalern in das Schuldgefängniß gesperrt, wo er sich in diesem Augenblicke noch befindet. Ich lief zu dem Advokaten, schilderte ihm die Verhältnisse des Verhafteten und bat um Freilassung – umsonst, der wackere Mann sagte mir höhnend: dergleichen Geschichten kennen wir, Herr von Bornstedt hat Geld, er will es nur nicht herausgeben. Ich habe den Wechsel an Zahlungsstatt angenommen und werde ihn verwerthen. Mag es kosten, was es wolle, ich drücke die Citrone aus, so lange noch ein Tropfen Saft darin ist! – Die arme Anna erhielt dieselbe Antwort. So stehen die Sachen, und nun können Sie sich erklären, warum das Fräulein so bemüht ist, dreihundert Thaler anzuschaffen.“

„Wer ist der Advokat?“ fragte Philipp hastig.

Der Magister nannte ihn und beschrieb seine Wohnung.

„Jetzt brauche ich Fräulein Anna nicht mehr zu sprechen!“ rief der junge Mann, indem er aufsprang. „Ich danke für ertheilte Auskunft – leben Sie wohl!“

„Darf ich nicht wissen, wer mir die Ehre eines Besuchs gegeben hat?“

Diese Frage des verwunderten Magisters hörte Philipp nicht mehr, er hatte bereits die Dachwohnung verlassen und eilte die Treppe hinab.

„Ein seltsamer Mensch!“ dachte der arme Gelehrte, indem er die Gitterthür schloß. „Ich wette, er hat sich in das reizende Mädchen verliebt, und will sich auf diese Weise ihre Gunst erwerben. Was es auch sein möge, wenn nur der Gefangene seiner Haft entlassen wird, und ich wette, daß er in der Absicht, dies zu bewirken, fortgeeilt ist. Anna soll jetzt noch nichts erfahren, vielleicht steht ihr eine köstliche Ueberraschung bevor. Gott gebe es, Gott gebe es!“

Magister Elias zündete eine Lampe an und ergriff die Feder wieder. Die Arbeit ging indeß schlecht von Statten, der kleine Mann sah oft zu der schwarzen Decke empor und lächelte dabei, als ob ein entzündender Gedanke in ihm aufgestiegen sei. Man muß ein Novellist sein, der für Brot arbeitet, um die Wonne zu begreifen, welche die Auffindung einer glücklichen Idee zu einer Novelle hervorbringt. Der gute Magister, dem es bisher stets an geeigneten Stoffen zu einer selbstständigen Arbeit dieser Art gefehlt hatte, empfand jetzt zum ersten Male diese Wonne.

„Herrlich, herrlich!“ rief er aus, nachdem er wohl zehn Minuten mit verklärten Mienen die Decke angestarrt hatte, ohne den Höllenlärm der Kinder und die von der bedrängten Mutter in dem Nebenzimmer ausgetheilten Prügel gehört zu haben – „das ist eine wundervolle Idee! Ein reizendes Fräulein in Trauerkleidern, ein greiser Vater im Schuldgefängnisse, Noth und Elend, beide unverschuldet, auf der einen, und ein böser Advokat und ein vornehmer junger Mann, der das Fräulein leidenschaftlich liebt, auf der andern Seite – schließlich die Rückkehr des reichgewordenen Bruders, die natürlich an dem Hochzeitstage der Schwester erfolgen muß, in dem Augenblicke, wo der Vater seinen Sohn herbeisehnt, um ganz glücklich zu sein, dann die Entlarvung eines intriguanten Menschen, wozu ich gleich den Advokaten verwenden kann – das giebt eine Novelle, die sich prächtig für die Gartenlaube paßt! Aus dem Leben gegriffen, nur aus dem Leben gegriffen! Wenn aus der Hochzeit etwas wird, so ist Alles wahr, und mein Werk hat einen um so höhern Werth. Der junge Herr wird schon wiederkommen, und bis dahin will ich ihn bei der guten Anna so herausstreichen, daß sie ihn als ihren Wohlthäter lieben muß. Ja, ja, ich will dafür sorgen, daß ich ganz nach dem Leben arbeite, daß der Gang der Handlung sich wirklich so ereignet, wie ich ihn mir gedacht habe. Die Zwischenfälle werden sich schon finden, denn ohne Hindernisse kommt ein liebendes Paar nie zusammen. Das giebt eine Novelle von zwei Bogen, und Ernst Keil, der splendide Verleger der Gartenlaube, zahlt fünfundzwanzig Thaler pro Bogen – also erhalte ich funfzig Thaler Honorar!“

Es litt Elias nicht länger auf seinem Stuhle, er stand auf, und ging in freudiger Bewegung durch das Stübchen. Dann setzte er sich wieder nieder und warf eine flüchtige Skizze auf das Papier. Vielleicht eine Stunde war verflossen, als plötzlich die kleine heisere Schelle an der Thür sich vernehmen ließ. Elias ergriff die Lampe, eilte hinaus, öffnete die Thür, und der alte Herr von Bornstedt schwankte herein – er war der Wechselhaft durch Philipp’s Vermittelung entlassen. Der Magister führte ihn triumphirend in das Stübchen, wo Anna arbeitete. Vater und Tochter sanken sich weinend einander in die Arme. Elias stand unter Thränen lächelnd an der Thür.

„Armer Vater!“ schluchzte Anna.

„Ach, es giebt noch gute Menschen in der Welt!“ sagte der alte Herr, indem er die Stirn seines Kindes küßte. „Der Advokat erschien und kündigte mir mit dem Bemerken die Freiheit an, daß ein unbekannter Wohlthäter meine Schuld bezahlt habe. Anna, ich bin hier fremd, Niemand kümmert sich um mich – Du hast ohne Zweifel Schritte gethan – –“

„Ich bin erstaunt, lieber Vater, denn vielleicht morgen erst wäre es mir möglich gewesen, Ihnen zu nützen, Wenn der Herr Magister uns keine Auskunft geben kann –“

„Ich weiß nichts!“ rief Elias. „Seit acht Tagen habe ich meine Arbeitsstube nicht verlasse. Aber beruhigen Sie sich nur, wir werden wohl noch erfahren, an wen Sie eine Dankadresse zu richten haben.“

Anna dachte an Madame Lindsor. Wie aber konnte sie wissen, zu welchem Zwecke sie das Kleid feilgeboten hatte? Der Kauf sollte ja erst morgen Mittag abgeschlossen werden.

„Wenn sie es nicht wäre,“ dachte freudig bewegt das arme Kind, „wenn sich eine andere Person unserer angenommen hätte, so möchte ich wünschen, daß sie mir das Kleid zurückschickt.“

Die Glocke draußen ließ sich von Neuem hören. Elias kam gleich

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