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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855)

Gedankens fähig. Als er sich aber wieder erholt und sich zu dem Armen bückt, um zu fühlen, ob noch Leben in ihm sei – ist er steif und eiskalt. Da ergreift ihn die Verzweiflung und er eilt in’s Dorf, wo er sagt, was und wo es geschehen, und dann eilt er fort im Sturme nach der Stadt, wo er sich den Gerichten überliefert.

Die Leute, welche das wahre Verhältniß kannten, bedauerten in eben dem Grade und Maße den armen Simon, als den braven Schulmeister und seine trostlose Familie.

Simon wurd, wie es ja anders nicht kommen konnte, freigesprochen; aber nie, meine Herren, – sagte Knipp – habe ich einen Menschen gesehen, der tiefer in seinem Innern zerrissen, unglücklicher und elender gewesen wäre als Simon. Er wollte sogleich die Försterei aufgeben und Soldat werden, weil ihm in diesem Berufe ein schnellerer Tod in Aussicht zu stehen schien; allein der gute Oberförster nahm sich seiner an wie ein Vater, und der Pfarrer des Dorfes stand ihm darin wacker zur Seite. Sie bestimmten ihn, Förster zu bleiben, um seiner guten Mutter willen, die eine hochbetagte Frau war; aber der Oberförster wirkte es aus, daß er an die Obermosel versetzt wurde, damit ihm nicht alle Tage die bekannte Umgebung an sein Unglück erinnerte, und er wieder zur Ruhe käme. Die Stelle, welche er erhielt, war besser als die, welche er bis jetzt gehabt, und dies setzte ihn in den Stand, sein Gehalt mit der armen Wittwe und den Waisen des Erschossenen zu theilen. Und als nach etwa einem halben Jahre seine Mutter starb, gab er fast Alles an sie ab, da er schier keine Bedürfnisse hatte. Obwohl er in einem kleinen Städtlein wohnte, so führt er doch das Leben eines Einsiedlers. Er ging in sich gekehrt dahin, hatte mit keiner Seel Umgang und that gewissenhaft seine Pflicht. Was ihm begegnet war, wußte eigenlich im Orte Niemand, und so hielten ihn die Leute für gemüthskrank, bedauerten den schönen, jungen Mann und ließen ihn gehen.

Neben seinem Hause wohnte eine betagte Wittwe mit ihrer Tochter, die einen Kramladen hatte. Da kaufte Simon sein Pulver und seinen Schrot und was er etwa sonst brauchte. Diese Leute nahmen gar vielen Antheil an ihm, besonders das sechzehnjährige, sehr hübsche Mädchen. das Mädchen faßte nach und nach eine lebhafte Neigung zu ihm. Der Gedanke war ihr erquicklich, wenn sie die Wolken von seiner Stirne scheuchen könnte, und sie konnte Stunden lang es sich ausmalen, wie sie ihn trösten und aufheitern wollte. Und doch war das Mädchen so stille und traurig, daß es Simon manchmal selbst auffiel. Ueberdies war in den Gesichtszügen des Mädchens etwas Bekanntes, was ihn, ohne daß er sich davon Rechenschaft geben konnte, ungemein anmuthete. Er sah sie nun öfter an, und auch in seinem Herzen erwachte eine Neigung zu dem holdseligen Ammichen, die immer tiefer wurzelte und den Gedanken in ihm weckte, mit ihr verbunden zu sein. Aber dachte er an sein Loos, dachte er, sie könne es erfahren, daß er einen Mord, wenn auch einen völlig unabsichtlichen, auf seiner Seele habe, so fürchtete er, sie würde sich mit Abscheu von ihm abwenden. Darum kämpfte er muthig gegen sein eigenes Herz und seine Neigung. Dennoch wurde seine Liebe stärker. Er sah es auch ein, daß dies vereinzelte Leben ihn nur immer trübseliger, maßleidiger und unglücklicher mache, und – da er deutliche Beweise der Liebe des Mädchens bemerkt zu haben glaubte, auch die Mutter stets so liebevoll und theilnehmend gegen ihn war, – so faßte er den Entschluß, um sie zu werben; aber sie mußte Alles wissen, Alles, ehe er sie um ihr Jawort bat. Er war zu ehrlich, etwas zu verschweigen.

So kam es denn, daß er öfter hinüberging, und länger weilte, als er nöthig hatte. Er erkannte es, daß ihm Mutter und Tochter sehr herzlich entgegenkamen. Das hatte so einige Monate gewährt, als der Winter kam, wo er manchmal am Abende drüben bei Mutter und Tochter zubrachte. In dem Städtchen sah man die Verbindung als eine gewisse an, obgleich von seiner Seite noch kein entscheidender Schritt gethan war. Eines Abends, wo er allein bei der Mutter war, faßte er den Muth, sie zu fragen, ob sie wohl in eine Verbindung zwischen ihm und Ammichen willigen würde. Die einfache, brave Frau nahm den ehrlichen Antrag freundlich auf und sagte ihm offen, wenn Ammichen mit ihm glücklich zu werden hoffe, so wolle sie freudig ihren Segen geben; jedoch müsse auch ihre Mutter einwilligen, denn Ammichen sei nur ihre angenommene Tochter und ein Bruderskind. Das hatte Simon, der mit sonst Niemandem Umgang hatte, nicht geahnet. Wahrscheinlich würde nun die Frau über Ammichens Herkunft sich weiter geäußert haben, allein es klingelte im Laden, und, da es schon spät war und Ammichen erst am andern Morgen von dem Besuche bei einer auf dem Lande wohnenden Freundin zurückkehrt, so nahm Simon einen herzlichen Abschied und ging heim, fest entschlossen, am andern Tage sein Angelegenheit zu einem, wie er hoffte, glücklichen Ende zu führen.

Wie glücklich ihn auch die Einwilligung der Nachbarin, und wie sehr ihn auch ihre Versicherung, die Mutter würde auch nichts gegen die Verbindung haben, froh machte, so lag es ihm doch unendlich schwer auf der Seele, daß er nicht anders konnte und durfte, als Ammichen Alles zu entdecken, was seine Seele belastete. Er betete zu Gott um Kraft dazu, und ging dann, als er Ammichen zurückkommen gesehen hatte, hinüber. Wahrscheinlich hatte ihre Tante oder Mutter ihr schon Alles vertraut, denn sie erglühte, als Simon in die Stube trat; aber dies Erglühen war der Art, daß Simon’s Herz voll seliger Hoffnung wurde. Er setzte sich zu ihr und nahm ihre Hand, die sie ihm ließ, deren Beben aber er fühlte, obwohl die seine auch nicht ohne Beben war.

Die Alte dachte wohl, sie sei hier völlig überflüssig und mochte darin sehr Recht haben. Sie machte sich also im Laden und in der Küche allerlei Geschäfte und ließ die zwei jungen Leute allein.

Eine Weile saßen sie stille da, das Mädchen in peinlicher Erwartung, die aber dennoch wieder eine hoffnungsvolle war; er ringend mit dem Worte, das zwar sein Herz erfüllte, aber doch nicht über die Lippe wollte. Endlich fand er Muth und Wort. Sie hörte ihm gesenkten Blickes zu, als er ihr sagte, wie er sie liebgewonnen habe, und wie er keinen höhern Wunsch habe, als sie in sein Haus als sein liebes Weib einzuführen. Was er sagte, war so offen, treuherzig und ehrlich, daß sie, als er sie nun entschieden fragte, ihn mit einem Blicke ansah, in dem er ihre Liebe zu ihm lesen konnte und fest und freudig Ja sagte.

In diesem glücklichen Augenblicke vergaß er Alles, was er ihr vorher hatte sagen wollen und erst, als die Tante wieder kam und sie mit Freudenthränen segnete, kam ihm mit einem Male diese Erinnerung und fiel wie eine recht schwere Last auf seine Seele. Er fühlte, daß er Alles sagen müsse. Er begann daher davon zu reden, warum seine Seele so belastet und gedrückt sei, daß man ihn hier für halb geisteskrank halte; davon sei der Grund ein Unglück, das ihm passirt sei. Er nannte den Ort, wo er als Förster gestanden und den Namen des braven Lehrers, den er erschossen habe. Ein gellender Schrei entfuhr fast gleichzeitig den Lippen Ammichens und ihrer Tante.

Simon starrte sie erbleichend an. –

„Es war mein Bruder und Ammichens Vater!“ rief die Tante voll Entsetzen.

Das Mädchen sank ohnmächtig in der Tante Arm.

Simon rührte sich nicht. Alles Leben schien aus ihm gewichen. Endlich richtete er sich auf, drückte einen Kuß auf des Mädchens erblichene Wange und wankte hinaus. – Er ging in seine Wohnung und nach einer halben Stunde sah man ihn mit raschen Schritten nach dem Walde gehen. Niemand aber sah ihn wiederkehren.

Die Leute meinten, er habe sich ein Leid angethan aus Verzweiflung, denn es blieb nun nicht verschwiegen, was geschehen war; aber dazu war Simon zu religiös. Vielmehr stellte es sich später heraus, daß er in fremde Kriegsdienste getreten war. Man hat indessen später nie wieder etwas von ihm gehört, und es ist zu vermuthen, daß ihm sein Leid doch noch das Herz gebrochen habe.

Und Ammichen? werdet Ihr fragen. Es war wohl schwer für das arme, brave Mädchen und sie war tief gebeugt. So frisch sie früher geblüht, so ist doch nachmals nie wieder eine Röthe auf ihre Wangen gekommen. Ihre Tante starb nicht lange nachher und hinterließ ihren Laden und Habe. Da fehlte es nicht an Freiern, auch nicht an braven jungen Männern darunter; aber sie verheirathete sich nie, sondern nahm ihre Mutter und Geschwister zu sich und half diese erziehen, die alle brav wurden und wohl versorgt in der Welt.“

Knipp schwieg, denn seine Erzählung war zu Ende. Sie gab uns Gelegenheit zu manchem ernsten Gespräche; allein dies stockte am Ende auch wieder. Der Oberförster zog die Uhr, hielt sie gegen die Lampe und sagte: „Erst neun Uhr!“

(Schluß folgt.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 610. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_610.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)