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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

Adolf berichtete: „Es ist die Tochter des Alten, und dieser ist Verwalter des Criminalgefängnisses. Ein alter Soldat von unzugänglichem Wesen, gegen alle Welt mißtrauisch und verschlossen, nur gegen seine Tochter – und seine Gefangenen nicht. Während er sich gegen die freie Gesellschaft absperrt, soll er gegen die seiner Obhut Befohlenen bei aller Pflichttreue die Menschenfreundlichkeit selbst sein, ja, man sagt, er nenne die Gefangenen seine Kinder, welche der liebe Gott der Stiefmutter Welt abgenommen und an sein Herz gelegt habe. Außer seinem traurigen Gebiete sieht man ihn wenig, dieser Garten ist der einzige öffentliche Ort, den er im Sommer wöchentlich ein paar Mal, und immer im Geleite seiner Tochter besucht. Hier sah ich beide vor acht Tagen zum ersten Mal, und war nicht weniger wie Du frappirt von dem Anblick dieser Mädchengestalt, Ich erfuhr erst hinterher ihr trauriges Loos, das sie aber kaum zu fühlen scheint, obschon sie erst in ihrem achten Jahre nach einer Krankheit erblindet ist. Ihrer Mutter schon vorher beraubt, soll sie von ihrem Vater mit der rührendsten Sorgfalt erzogen, später mehrere Jahre dem trefflichen dresdener Blindeninstitut anvertraut worden, und aus demselben vor zwei Jahren mit für ihren Zustand wunderbaren Fertigkeiten, namentlich in der Musik, heimgekehrt und seitdem der Abgott ihres Vaters sein. Du kannst Dir denken, daß mein Wohlgefallen an dem reizenden Wesen ein rein künstlerisches ist, da ich mein Bräutchen in Berlin über Alles liebe und es heimzuführen gedenke, sobald ich zu Federn komme. Aber ich konnte doch eine Nacht kaum schlafen vor Begierde, diese Gestalt in meiner Mappe zu haben. Bei der Liebe, die der Vater zu seinem Kinde hegt, dachte ich, müßte ihm ein Gefallen geschehen, wenn es ihm umsonst gemalt würde; ich ging daher zu ihm – aber es fehlte wenig, so hätte er mich zur Thür hinausgeworfen. Ich mußte unverrichteter Sache abziehen und mich mit diesem Diebstahl behelfen.“

Jetzt erhob sich der Greis mit seiner Tochter und verließ Arm in Arm mit ihr den Garten. Dem jungen Arzte war, als dürfe er die schöne Unglückliche nicht mehr aus den Augen lassen, als müsse er ihr auf dem Fuße folgen und sie aus ihrer Nacht erlösen – und doch stand er wie eingewurzelt da, während sein Freund die Wirthin citirte und sie seinen gelungenen Raub bewundern ließ. Darüber merkten alle Drei nicht, wie ein Polizeisergeant sich einen Moment hinter dem dichten Robiniengebüsch vorbeugte, vor dem der Gefängnißverwalter mit seiner Tochter gesessen.

„Aber nun, Mutter, einen rechten Kaffee!“ sagte Adolf, die Wirthin auf die fette Schulter klopfend – „und bringen Sie ihn in den Garten.“

Bald saßen die Freunde unter den schattigen Akazien, Rudolf genau auf dem Platze, den Clelia, so hieß die Blinde, innegehabt hatte.

„Meine Instrumente! meine Instrumente!“ seufzte er auf einmal auf. „Ich hätte lieber mich sollen auf die Straße setzen lassen, als die versetzen!“

„Nur Geduld!“ ermunterte Adolf; „es ist nun einmal geschehen, und über lang oder kurz muß bei mir doch so viel werden, sie einlösen zu können.“

„Ach! das ist immer eine ungewisse Aussicht – wer weiß, wenn der bequeme Englishman sich besinnt – und mich jammert jede Minute, die ich dies holde Wesen mir in Nacht umherwandelnd denken muß.“

„Jetzt verstehe ich Dich erst – Du willst sie wohl operiren?“ „Freilich! Sonst möchten die Instrumente meinetwegen alle semitischen Sprachen lernen und Sanskrit dazu. Zur Fahrt auf den Wallfischfang brauche ich so kostbare Werkzeuge nicht. Es hülft nun doch nichts – ich muß in den sauern Apfel beißen, muß zu meiner Tante gehen –“

„Willst Du nicht erst noch ein paar Tage warten? Der Lord Bullock muß sich doch nächstens erklären –“

„Nein, nein!“ rief Rudolf heftig; „was Du thun willst, thue gleich! heißt des Arztes goldene Regel. Ein Arzt darf nie auf morgen verschieben, was heute gethan werden könnte, wenn es gilt, einem Leidenden zu helfen. Es steht fest, ich gehe zu meiner Tante – das geizige Weib verbirgt Nachts hundert Mal mehr Geld unter ihrem Kopfkissen, als ich bedarf, um zwei Menschen glücklich zu machen.“

„Ich will Dich nicht zurückhalten – versuche Dein Glück – aber wenn es fehlschlägt, so werde nicht muthlos, verzweifle nicht –“

„Es darf nicht fehlschlagen; ich gehe der Alten nicht eher vom Halse, bis sie etwas herausrückt von Dem, was sie meinem Vater abgeschwindelt –“

„Du bist ja auf einmal ganz umgewandelt – aber recht so! Geh’ dem Satansknochen zu Leibe – wie ich glaube, spielt sie die Fromme, da mal’ ihr à la Michel Angelo das jüngste Gericht an die Wand, daß ihr wird wie lauter Heulen und Zähneklappern –“

„Laß mich nur machen – ich will ihr schon zusetzen – wie ich Dir sage: ich verlasse ihre Schwelle nicht, bis ich sie um die nöthigen Thaler ärmer gemacht. Ich weiß schon ein Mittel, sie mürbe zu machen – die alte Heuchlerin hat eine heillose Furcht vor dem Tode – und den Tod will ich sie leibhaftig sehen lassen, wenn sie nicht gutwillig giebt!“

In diesem Augenblicke brachte Frau Brummeisen den Kaffee. Auf Adolf’s Einladung setzte sie sich zu den beiden Freunden und plauderte mit ihnen, wobei Rudolf noch Manches über die Lebensweise des alten Gefängnißverwalters und seiner Tochter erfuhr, was ihn nur in dem Verlangen bestärkte, die Blinde von ihrem Leiden zu befreien.

Eine halbe Stunde später verließen die Freunde den gastlichen Ort. Bald nach ihnen schlich auch der Polizeisergeant sich aus seinem Versteck hervor und folgte ihnen von fern nach.


II.
Der Mord.

Mit einer Entschlossenheit, die von seinem vorigen Kleinmuthe gewaltig abstach, wandte Rudolf nach der Trennung von Adolf seine Schritte dem Hause seiner Tante zu, das in der stillen und entlegenen „Schmiedegasse“ lag. Die alleinstehende alte Frau wollte, als sie auf sein Klopfen zum Fenster heraussah, ihren Neffen von da aus kurz abfertigen; aber ihre Neugier kennend, gab er vor, ihr wichtige Neuigkeiten zu bringen und verschaffte sich dadurch Einlaß: Er fand sie in Gesellschaft einer jungen Frau, ihrer Pathe. Dieselbe hatte ihren eigenen Hausstand in einer andern Straße, versah aber bei der Alten die Stelle einer Aufwärterin umsonst – aus Anhänglichkeit, wie sie vorgab, in Wahrheit aber, in der Hoffnung, sie zu beerben. Rudolf wußte die Neugier seiner Tante durch diese und jene Tagesneuigkeit zu befriedigen, und als endlich die junge Frau sich entfernte, um nach ihrem kranken Kinde zu sehen, rückte er gerade auf sein Ziel los. Aber wie fein er auch seine Bitte einkleidete, welche rührende Vorstellungen er auch machte – er erreichte nichts als das Anerbieten eines Almosens von einem Thaler, Entrüstet schlug er es aus, und die Rückkehr der Wartefrau verhinderte ihn, weiter in die geizige Alte zu dringen.

Hülflos wie er gekommen, ging er und nahm unwillkürlich seinen Weg nach dem Criminalgefängniß. Hier trat das durch die widrige Verhandlung mit der Tante getrübte Bild der Blinden wieder in seiner ganzen Reinheit hervor. Er hatte schon die Hand an den Klingelzug gelegt, um Einlaß zu begehren, damit er sofort eine Untersuchung der in Nacht gehüllten Augen vornähme, aber er besann sich, wie wenig er in der Lage sei, dem ihm als so mißtrauisch dargestellten Gefängnißbeamten sich als kundigen Arzt zu legitimiren, dem ein so schwieriges Werk anzuvertrauen war. Er ließ die Klingel ungezogen und entfernte sich mit dem Entschlusse, am Abend, wenn seine Tante wieder allein sein würde, sie noch einmal aufzusuchen, Ihm fiel wohl ein, daß sie ihm dann die Hausthür gar nicht öffnen würde, aber er besann sich auch, daß er im Besitze eines Schlüssels dazu war. Mit dessen Hülfe beschloß er, sie zu überraschen, und hoffte, sie unter dem Einflusse nächtiger Furcht fügsamer zu finden als am Tage.

Der Abend war hereingebrochen, und Rudolf’s Tante hatte sich eben von ihrer Aufwärterin ihre erste Abendandacht vorlesen lassen, als sie sagte: „Heute, Minna, mußt Du mir den Gefallen thun und über Nacht bei mir bleiben. Ich habe mich noch nie so gefürchtet wie diesen Abend. Du hast den Rudolf gesehen – sag’ selbst, kam er Dir nicht ganz verwildert vor?“

Die Erbschaftsspekulantin meinte, sie habe ihn fast nicht wieder erkannt.

„Nicht wahr?“ ergriff die Alte wieder das Wort; „ja, seit er seinem Gott, dessen Dienst ich ihn geweiht hatte, untreu geworden,

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