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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

Wir übergehen die nächsten Proceduren, welchen der so schwerer Schuld Geziehene vom Gerichte unterworfen ward. Bei seiner schüchternen Gemüthsart und seinem Mangel an Weltkenntniß darf es nicht Wunder nehmen, wenn er sich von dem über ihn hereingebrochenen Mißgeschicke mehr als er im Bewußtsein seiner Unschuld nöthig hatte, aus der Fassung bringen ließ. Sein ängstliches Benehmen vor dem Richter, namentlich an der Leiche der Gemordeten, deren Anblick ihn auf’s tiefste erschütterte und auch mit Reue erfüllte über seinen gestrigen Versuch, Geld von ihr zu erpressen, und die in seinem verworrenen Gemüthszustande auch verworrenen ausfallenden Antworten vergrößerten das Gewicht der gegen ihn vorliegenden Inzichten nicht wenig. Und als er den von der Wartefrau angesteckt gefundenen Schlüssel als sein Eigenthum erkannte, und zwar mit sichtbarem Erschrecken über dies neue Beweismittel gegen ihn – da hatte der untersuchende Richter nur zu bald sich ein verdammendes Urtheil über den Angeschuldigten gebildet. Die in seinem Schreibtisch aufgefundenen zwanzig Louisd’or, die ihm Adolf geliehen, wurden als corpus delicti betrachtet, wenn man schon seine Angabe, wie er dazu gekommen, zu Protokoll nahm – aber der Maler schien durch das Gespräch im Garten des Kaffeehauses an der Schifferallee selbst gravirt; er wurde aus den Armen seiner Braut gerissen, um gefangen in seine Vaterstadt zurückgeführt und wie sein Freund’ eingekerkert zu werden.

Leider war der Engländer, dem Adolf das Bild verkauft hatte, inzwischen nach England abgereist, und so konnte der Letztere den rechtlichen Erwerb jenes Geldes nicht sofort nachweisen, und bis der Engländer in seiner Heimath ausfindig gemacht und dessen Zeugniß herbeigeschafft war, konnte eine lange Frist vergehen.

Indeß ergab sich der joviale Maler mit mehr Fassung in sein trauriges Loos, als sein armer Freund, er behielt vor dem Richter all seinen Humor und somit auch seine Besonnenheit, so daß er sich von vorn herein eine günstigere Meinung sicherte, als es bei jenem der Fall war. Sehr zu statten kam ihm das Zusammentreffen der Zeit, welche sein Hauswirth als die seiner Nachhausekunft in jener Nacht angab, mit der, welche die Mutter Brummeisen als die Zeit seines Aufbruchs aus ihrem Hause nannte – ein Vortheil, dessen sich Rudolf durch seine träumerische Nachtpromenade beraubt hatte.

Was diesem besonders zum Nachtheil gereichte, war, daß die beiden Hauptzeugen wider ihn, die Fritschin und der Polizeisergeant Huker, die von ihnen belauschten Gespräche nur bruchstückweis gehört hatten, und natürlich gerade die Stellen, welche im stärksten Affekt gesprochen worden, folglich die gefährlicheren, die allerdings, aus dem Zusammenhange gerissen, eine furchtbare Deutung zuließen. Der Sergeant glaubte mit gutem Gewissen auf seinen Diensteid versichern zu können, daß Rudolf seiner Tante den Tod gedroht habe, wenn sie das von ihm begehrte Geld nicht gutwillig gäbe; und die alte Frau selbst hatte ja, als er vor ihrem Fenster gehorcht, der Fritschin geklagt, ihr Neffe trachte ihr nach dem Leben.

Es hieße jenem Gerichtshof sehr Unrecht thun, wollten wir sagen, er habe es, nachdem er sich einmal sein Urtheil über Rudolf gebildet – über Adolf schwankten die Meinungen – sich bequem gemacht. O nein! mit deutscher Gründlichkeit wurde die Untersuchung fortgeführt und unverdrossen ein Fascikel nach dem andern vollgeschrieben – um ja die Schuld des Angeklagten so klar als nur möglich darzuthun. Wer mit den Geheimnissen der Inquisitionspraxis unbekannt ist, der glaubt nicht, mit welchem erstaunlichen Scharfsinn manche Inquirenten Umstände, die in der Wirklichkeit nicht den entferntesten Zusammenhang mit dem Gegenstande ihrer Untersuchung haben, doch damit in die augenfälligste Verbindung zu bringen wissen, so daß der nach den Akten erkennende Richter gar nicht daran zweifeln kann, daß er es mit einem genetisch verbundenen Ganzen zu thun habe. Und einen solchen Inquirenten hatte Rudolf.

Aber während das Gericht auf den Untergang des armen Doktors los incriminirte, erweckte die Macht, die über den Kindern des Unglücks wacht, ihm einen Engel, der wenigstens sein Leiden verklärte.

Es war am Abend des zweiten Tages seiner Einkerkerung, als Rudolf in einem an Verzweiflung gränzenden Zustand auf seinem Strohe lag. Auf einmal schlug der Ton einer Harfe an sein Ohr, und nicht lange währte es, so begann eine herrliche Sopranstimme das Spiel mit der Arie zu begleiten: „Und ob die Wolke sie verhülle, die Sonne bleibt am Himmelszelt.“ – Dieser Gesang drang durch die offene Speiseklappe seiner Thür so glockentönig an Ohr und Herz des Dulders, daß alle seine Lebensgeister aufwachten und sich zu einer Andacht ermannten, wie sie den Gesang selbst beseelte. Er hatte manche gute Agathe gehört, aber so seelenvoll schien ihm noch keine das Lied gesungen zu haben, wie die unsichtbare Sängerin – Clelia, wie er sogleich ahnte. Als sie zum letzten Mal die Worte wiederholte: „das Auge ewig rein und klar, nimmt aller Wesen liebend wahr“ – da war es ihm, als erwache er aus einem schweren Traume zu neuem sonnigen Leben; er vergaß auf Augenblicke, wo er war, und selbst als nach dem Verstummen des Gesanges er sich wieder daran erinnerte, begann er sich mit seinem Geschick auszusöhnen. Er faltete die Hände und betete: „Und ob die Wolke sie verhülle, die Sonne bleibt am Himmelszelt.“ –

Bald darauf erschien der Kerkermeister, Clelia’s Vater. Rudolf bot ihm freundlichen Gruß. Der Greis reichte ihm die Hand und blickte ihm ernst und forschend in’s Gesicht.

„Sie sind ja ganz verändert“ – sagte er nach einer Weile.

„Ja“ – erwiederte Rudolf – „ich hatte Gott und mit ihm mich selbst verloren – aber so eben hab’ ich ihn wieder gefunden.“

„Wohl Ihnen – ohne ihn ist nirgends gut sein, am wenigsten im Gefängniß – halten Sie ihn fest!“

„O, ich will ihn nicht wieder verlieren – wenigstens nicht, wenn er öfter so zu mir redet; wie er vorhin gethan –“

„Gott redet immer mit uns auf mancherlei Weise, wenn wir ihn nur hören wollen –“

„Aber in seiner Liebe offenbart er sich uns in dunkeln Stunden auf ganz besonders liebliche Weise – und so geschah es mir – Dank dem Munde, durch den es geschah. Ach, möchte dieser Mund meinem schwachen Glauben noch oft zu Hülfe kommen!“

„Sie haben den Gesang vorhin gehört?“

„Ihm verdank’ ich meine Erhebung.“

Der Greis sah dem Gefangenen wieder scharf in’s Gesicht. Zuletzt schüttelte er mit dem Kopfe und sagte: „Sind Sie musikalisch?“

„Ich spiele Klavier –“

„Ich habe einen guten Flügel – wollen Sie mir einmal etwas spielen?“

„Herzlich gern.“

„So kommen Sie.“

Dem Gefangenen schlug das Herz – er hoffte Clelia zu sehen. Allein er täuschte sich. Der Greis führte ihn in ein kleines schmuckes Zimmer, das unter andern das erwähnte Instrument enthielt. Er schloß es auf, bat Rudolf daran Platz zu nehmen und reichte ihm verschiedene Noten dar. Rudolf nahm das erste beste Heft und spielte vom Blatte. Der Zuhörer lauschte mit sichtbarem Vergnügen. – „Gut, gut, ich sehe, Sie können spielen“ – sagte er – „viel besser, als ich – das ist mir lieb. Ich habe gestern eine Partie neuer Sachen von Mendelsohn-Bartholdy, Robert Schumann und Franz Schubert erhalten, aber die meisten sind mir zu schwer, und eine liebe Person, die des Augenlichtes beraubt ist, möchte sie gern hören. Heute ist es dazu zu spät, aber morgen, wenn Sie wollen, hol’ ich Sie wieder.“

Als Rudolf in seine Zelle zurückgekehrt war, wußte er nicht, ob er nicht vielmehr dem Schicksal danken sollte; das ihn an diesen Ort geführt, als darüber jammern. Er hatte danach eine Nacht voll erquickenden Schlafes.

Am folgenden Tage konnte er die Stunde kaum erwarten, wo er würde zum Klavierspiel abgeholt werden. Heute hoffte er Clelia bestimmt zu sehen. Aber er sollte sich wieder getäuscht haben. Die Blinde war im angrenzenden Gemach, dessen Inneres ihm ein Vorhang verbarg. Er ahnte, daß sie da sei, und spielte die ihm vorgelegten Stücke mit innigster Bewegung. In den Pausen unterhielt er sich zwanglos mit dem Greis, der immer zutraulicher ward. Rudolf hütete sich wohl nach seiner unsichtbaren Zuhörerin zu fragen – er lebte der Hoffnung, sie einst seinem Blicke nicht länger entzogen zu sehen.

Aber wie froh erstaunte er nach der Rückkehr in seine Zelle, als abermals Harfenton an sein Ohr klang, und er eins der neuen Lieder von Schubert vortragen hörte! Jetzt verstand er den Vater der blinden Harfnerin: er hatte ihn zu ihrem Lehrer gemacht. Wie erhob dieser Gedanke seine Seele! Wie beglückt führte er ihn jeden Tag hinüber in das trauliche Zimmer an den Flügel, mit

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