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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

Entbehrung schützt – ich bin eine Waise und stehe allein in der Welt.“

„Um so mehr Grund, daß Sie sich einer Familie anschließen, die den lebhaftesten Antheil an Ihrem Geschicke nimmt. Im Namen meiner Gattin lade ich Sie ein, mein Haus so oft zu besuchen, als Sie das Bedürfniß nach Gesellschaft fühlen. Ohne Ihr Familiengeheimniß preiszugeben, können Sie uns das Vergnügen gewähren, Sie in unserer Nähe zu sehen.“

Eine tiefe Bewegung bemächtigte sich des jungen Mädchens.

„Mein Herr,“ antwortete sie mit bebender Stimme, „das Schicksal hat mich für jetzt noch zur Einsamkeit verurtheilt; aber sobald es mir gestattet ist, den Kreis meiner Existenz auszudehnen, werde ich nicht verfehlen, Ihrer Einladung nachzukommen.“

Sie verneigte sich tief, und verließ das Kabinet. Der Banquier begleitete sie bis zur Thür. Hier gab er dem Commis einen Wink – kaum hatte Sophie das Haus verlassen, so trat auch Lambert auf die Straße; er folgte dem Mädchen, das eine glühende Leidenschaft in ihm erweckt hatte.

IV.
Sophie.

Ohne sich umzublicken, ging Sophie die Straße hinab. An der nächsten Ecke bestieg sie einen Omnibus, der vorbeifuhr. Das große, schwerfällige Fahrzeug setzte so langsam seinen Weg fort, daß Lambert ohne Anstrengung folgen und das Aus- und Einsteigen der Passagiere beobachten konnte. Der Omnibus fuhr aus dem Thore der Vorstadt Sanct Georg zu. Am äußersten Ende dieser Vorstadt sah der Commis das junge Mädchen, das er unter tausend Personen wiedererkannt haben würde, aussteigen. Sie schlug eine der Seitenstraßen ein, die nach der Alster führen.

Lambert beeilte sich, ihr zu folgen, um zu sehen, welches von den Häusern sie betreten würde. Der Drang, die Wohnung des Engels kennen zu lernen, der ihn bezaubert hatte, trieb ihn mehr als der Gehorsam gegen seinen Herrn; er dachte kaum noch daran, daß er einen Auftrag des Banquiers ausführte.

Ludwig Lambert hatte fast das Schicksal Soltau’s: er besaß kein Vermögen, und außer einem alten Onkel auch keine Verwandten. Dieser alte Onkel war ein emeritirter Prediger aus dem Holsteinischen, er bezog eine kärgliche Pension, die er früher, ehe Ludwig die Stelle in Soltau’s Comptoir bekleidete, mit seinem Neffen getheilt hatte. Ludwig besaß aber statt des Vermögens eine Bildung, die man nicht häufig bei den über Zahlen erbleichenden Comptoirmenschen trifft. Sein Onkel hatte ihn zum Studium der Theologie bestimmt; Ludwig aber konnte die Universität nicht beziehen, nachdem er das Gymnasium verlassen hatte, denn der alte Prediger ward pensionirt, und seine Pension reichte nicht aus, um die Kosten des Studirens zu bestreiten. Ludwig trat als Lehrling in ein kaufmännisches Geschäft, ward nach drei Jahren Commis und erhielt die Stelle in dem neu errichteten Bankhause Soltau’s. Der Commis hatte jetzt die Liebe kennen gelernt, und seit dem ersten Erscheinen Sophie’s hatte er alle Qualen unbefriedigter Sehnsucht empfunden. Sein Bemühen, die Schöne ausfindig zu machen, war vergebens gewesen, und man kann sich seine frohe Ueberraschung denken, als er sie heute in dem Comptoir erblickte und den Auftrag erhielt, ihre Wohnung auszuspähen.

Leicht wie ein Sylph schwebte Sophie die Straße hinab. Als sie das Ufer des großen Alsterbassins erreicht hatte, blieb sie an einem Gartengitter stehen und holte einen Schlüssel aus ihrer Tasche. Bei dieser Gelegenheit wandte sie sich, und erblickte den Commis, der kaum dreißig Schritte von ihr entfernt war. Lambert stutzte; um aber keinen Verdacht zu erwecken, beschloß er, vorüber zu gehen. Sophie erkannte den Commis aus dem Comptoir Soltau’s. Rasch verbarg sie ihren Schlüssel wieder und schickte sich an, weiter zu gehen. In diesem Augenblicke kam Lambert an, dessen Gesicht vor Verwirrung wie Purpur glühte. Ehrfurchtsvoll grüßte er. Sophie dankte durch ein leichten Kopfnicken. Der Zufall wollte, daß sie Beide zugleich in die kleine Kastanienallee traten, die sich am Ufer der Alster hinzieht. Kein Mensch zeigte sich in dem ruhigen Stadttheile, und selbst die Fenster der niedlichen Landhäuser waren durch Jalousien geschlossen, um der brennenden Mittagssonne zu wehren.

Lambert konnte unmöglich diese günstige Gelegenheit, mit seiner Abgöttin anzuknüpfen, unbenutzt vorübergehen lassen. Er würde mehr gewagt haben, als sie anzureden, um endlich die Qualen seiner Sehnsucht zu mildern. Wie aber sollte er beginnen? Er sann vergebens auf eine passende Phrase. Da verlor Sophie, die einige Schritte vor ihm ging, den Schlüssel. Wie ein Habicht schoß der junge Commis aus das Kleinod, das ihm den Himmel seiner Liebe öffnen sollte. Sophie hatte den Verlust sogleich bemerkt – sie blieb stehen und sah sich um.

„Ihr Schlüssel ist gefunden, Fräulein Saller!“ stammelte Lambert, der kaum so viel Athem hatte, daß er reden konnte.

„Ich bin so glücklich, ihn Ihnen überreichen zu können.“

Sophie empfing mit zitternder Hand ihr Eigenthum.

„Sie kennen meinen Namen?“ fragte sie.

Diese Frage nahm dem armen Commis eine Centnerlast vom Herzen, denn sie bewies, daß der Engel seiner Träume nicht abgeneigt war, sich auf ein Gespräch mit ihm einzulassen. Trotzdem aber fehlte ihm noch die klare Besinnung zur unbefangenen Fortsetzung des Gesprächs.

„Ich kenne ihn,“ gab er zur Antwort, „weil ich ihn heute zum zweiten Male in unsere Register eingetragen habe. Den Namen einer schönen Clientin vergißt man so leicht nicht!“

Lambert erschrak vor sich selbst, als er, ohne es zu wollen, diese galante Phrase ausgesprochen hatte. Er warf einen Seitenblick auf Sophie, um die Wirkung derselben zu erforschen. Ein spöttisches Lächeln schwebte auf dem reizenden Gesichte des jungen Mädchens.

„Ganz recht, Sie sind der Secretär des Herrn Soltau!“

„Sie erkennen mich wieder?“

„Nur auf Ihre so eben gegebene Andeutung hin. Ich würde an eine Ähnlichkeit mit dem jungen Herrn geglaubt haben, den ich vor kaum einer halben Stunde noch arbeitend an dem Bureau gesehen habe. Der Omnibus hat mich rasch in diese Gegend gebracht, und Sie kommen mit mir zugleich an – da ich nicht annehmen konnte, daß Sie mir auf dem Fuße gefolgt sind –“

„O, nehmen Sie es nur an, mein liebes Fräulein; ich bin Ihnen auf dem Fuße gefolgt!“

„Das ist ein offenherziges Geständniß!“

Ludwig Lambert erschrak über den spröden Ton, in dem diese Worte gesprochen wurden.

„Wofür ich Ihnen danke,“ fügte sie nach einer Pause hinzu.

Der Commis fühlte, daß er jetzt eine Nothlüge aussprechen mußte, wenn er den Zweck seines Ganges verheimlichen wollte; aber ihm fehlte der Muth, das Mädchen, das er liebte, gleich bei der ersten Unterredung mit einer Unwahrheit zu hintergehen. Er befand sich in einer sehr peinlichen Lage: die Liebe kämpfte mit der Dienstpflicht. Aber der Kampf dauerte nur einige Augenblicke – die Liebe trug den Sieg davon.

„Ich begreife,“ begann er zagend, „daß Ihnen mein rasches Erscheinen in dieser Vorstadt auffallen muß – darf ich es wagen, Ihnen Aufklärung darüber zu geben?“

„Fast glaube ich, daß ich Sie in meinem Interesse darum bitten muß!“

„Mein liebes Fräulein, fürchten Sie keine verletzende Indiscretion – ich bin Ihnen gefolgt, um einem Wunsche zu genügen, der mir seit einem Vierteljahre am Herzen gelegen hat.“

„Und dieser Wunsch ist?“ fragte sie flüsternd.

„Sie wiederzusehen, ohne von dem Zufalle abhängig zu sein.“

Erröthend blickte Sophie vor sich hin, ohne zu antworten.

„Kostet es Ihnen aber Ueberwindung,“ fuhr Ludwig treuherzig fort, „mich, den Fremden, einer nähern Bekanntschaft zu würdigen, so nehmen Sie an, daß Sie meine Bitte nicht gehört, und meine Person heute nicht gesehen haben. Ich werde mich bemühen, den Eindruck zu vergessen, den Ihr erstes Erscheinen auf mich ausgeübt hat!“

Sophie’s Verlegenheit erreichte den höchsten Grad. Einen so plötzlichen Sturmangriff hatte sie nicht erwartet. War ihr der hübsche blonde Commis nicht gleichgültig gewesen, so ward er ihr von diesem Augenblicke an interessant.

„Und um diesen Wunsch mir auszusprechen, sind Sie mir nachgeeilt?“ fragte sie.

„Ja! Wie anders wäre es denn möglich gewesen, Sie zu sprechen oder zu erfahren, wo Sie wohnen? Konnte ich denn

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