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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

müssen, da uns dazu Zeit, Lust und Heroismus abgeht, wenigstens Die hören, welche diese Höllenfahrt wirklich machten, wie der große Verbrechers-, Arbeits- und Armenforscher in London, Mr. Mayhew.

Mr. Mayhew hat das genaue, praktische und persönliche Studium der londoner Arbeiter-, Armen- und Verbrecherzustände zu der Aufgabe seines Lebens gemacht. Ein vielbändiges Werk: „Arbeit und Armuth in London“ („London Labour and London Poor“) enthält die genauesten Forschungen und persönlichen Erfahrungen des Verfassers aus allen Schichten der ausgestoßenen und verwahrlosten Klassen, des dicken, faulen Niederschlags aus der ungesunden Mischung und Gährung der gesellschaftlichen Zustände Englands. Die gute Gesellschaft und die freie Presse Londons erstaunten über die Enthüllungen in diesem Werke, als wäre von den fernsten und fremdesten Zuständen der Antipoden die Rede.

Die „anständige“ Presse ging gar so weit, die Thatsachen, die in Namen, Zahlen, Hausnummern, Individuen u. s. w. bestimmt dargestellt und nachgewiesen waren, zu läugnen. Aber damit wurden die Thatsachen nicht beseitigt, zumal da Mr. Mayhew seitdem ununterbrochen fortfuhr, mit neuen Truppen von Erfahrungen und Forschungen auf den Markt der Oeffentlichkeit zu treten. Er rief neuerdings verschiedene Armen- und Verbrecherklassen zu öffentlichen Versammlungen, und gab ihnen Gelegenheit, ihre Verhältnisse und Leiden persönlich und öffentlich in Gegenwart von Berichterstattern für Zeitungen auszusprechen. Er scheute sich sogar nicht, die Legionen von Prostituirten Londons theilweise in solchen Meetings zu vereinigen und sie zu Geständnissen zu veranlassen. Letzteres thaten sie aber bezeichnender Weise nur, nachdem auf ihr Gesuch das blendende Gaslicht des Saales so weit verdunkelt worden war, daß die Rednerinnen in ihren Gesichtszügen nicht mehr deutlich unterschieden werden konnten.

Neuerdings hat sich Mr. Mayhew besonders der ticket-of-leave-men angenommen, um die Halbheit der Humanität in der Parlamentsakte vom Juli 1854 zu ergänzen und zwischen dem tugendhaften Pharisäismus der guten Gesellschaft und der emporstrebenden Entlassenen ein verständigeres, humaneres Verhältniß herzustellen. Er that dies durch Zusammenberufung der ticket-of-leave-men zu einer öffentlichen Versammlung, wobei die Polizei ganz ausgeschlossen war. Dieses Meeting von Verbrechern aller Art im März d. J. ward als ein Ereigniß behandelt. Die Presse gab zum Theil die ausführlichsten Berichte über die Geständnisse und Enthüllungen der einzelnen Unglücklichen, und Bilderzeitungen ließen die ganze Versammlung in Holz schneiden, um ihre Spalten damit zu zieren. Mr. Mayhew selbst ließ drei charakteristische ticket-of-leave-men photographisch aufnehmen, um sie in seinem neuesten Werke: „Die große Welt Londons“ mit zu veröffentlichen. Der jüngste von ihnen, 19 Jahre alt und neunundzwanzig Mal im Gefängnisse gewesen, wurde durch sein Redner- und Darstellungstalent der Hauptheld des mayhew’schen Meetings. Zuletzt zu sieben Jahren Transportation verurtheilt, sei er kraft des neuen Gesetzes in’s Gefängniß gekommen, um schneidern zu lernen, und alle Bücher, deren er habhaft werden konnte, zu verschlingen, ja, selbst etwas Algebra zu versuchen. Dann habe er in Portsmouth ein Jahr lang täglich von früh bis zum Abend Karre geschoben, und von Geistlichen, denen er seine Befürchtungen wegen seiner gebranntmarkten Zukunft in der Freiheit mitgetheilt, die Antwort erhalten, daß er nur fleißig die vorgeschriebenen Andachtsübungen exerciren möge. Mit 6 Pfund Verdienst entlassen und von einem Gefängnißbeamten nach Southampton begleitet, habe ihm letzterer etwas Branntwein zu kosten gegeben, von dem er vier Jahre lang nichts gerochen. Die ungewohnte Belebung, die er gefühlt, habe ihn zu etwas mehr auf eigene Rechnung, zur Trunkenheit, zu lustiger Gesellschaft, zu vollständiger Leerheit seiner Taschen und sofort wieder in Polizeihaft geführt. Entlassen, ohne einen Pfennig in der Tasche, kam er nach London, wo er drei Monate lang Pflaster trat und Beschäftigung suchte, ehe er wieder über’s Herz bringen konnte, zu stehlen. Später blieb ihm nichts Anderes übrig, und die Leute seien selbst Schuld, da sie ihm drei Monate lang verwehrt hätten, ehrlich sein saures Brot zu verdienen, wenn er nur einen Gefallen daran gefunden, als Dieb wöchentlich 5 bis 6 Pfund (über 40 Thaler) aus einem Compagniegeschäft zu ernten. Natürlich sei ein so lohnendes, unsicheres Geschäft nicht von Dauer gewesen, sondern Veranlassung zu einem neuen vierzehnmonatlichen Gefängnißleben. Aus diesem sei er erst vor einigen Tagen zurückgekehrt und von der Polizei und dem Publikum gleich wieder umher gehetzt und von jedem Versuche, einen ehrlichen Broterwerb zu treiben, zurückgestoßen worden. „Ich bin fest entschlossen,“ so schloß er, „meine Hand nie wieder zu einer unehrlichen Handlung auszustrecken, aber bis jetzt weiß ich nicht, wie ich meine nächste Mahlzeit bekommen soll, wenn ich sie nicht stehle.

Man sehe sich den frischen, derben Bengel an, ob er nicht im Stande wäre, mit seinen jungen kräftigen Gliedern, mit seiner Lernlust, mit ein Bischen Schneidekunst, ja mit etwas selbsterlernter Algebra im Kopfe sich überall nützlich und angenehm zu machen, wenn man ihm mit Vertrauen, mit Menschlichkeit, mit Arbeit und Lohn entgegenkäme? Aber dies thut die Gesellschaft nicht; es ist diese Gesellschaft, welche seine Hand wieder zu unehrlichen Handlungen ausstreckt.

Ein anderer „Redner“ nimmt das Mitleiden des physiologischen Kenners in Anspruch. Sein Kopf ist zu verbrecherischer Disposition mißgebildet. Keine Erziehung, sondern Verwahrlosung ließ ihn ohne moralische Mittel, diese Disposition zu überwinden. Wegen Raubes zu 14jähriger Transportation verurtheilt, verbüßte er einen Theil dieser Strafe in Gibraltar, „wo die fleischzerreißende, blutspritzende Peitsche täglich von Sonnenaufgang bis in die Nacht hinein geschwungen ward!“ Sein Verdienst bei Entlassung ward ihm verweigert, um seinen Rücktransport in die Freiheit Englands damit zu bezahlen.

Ein dritter Redner, von Hause aus ein Händler auf den Straßen, verwaist seit dem zehnten Jahre, mit Apfelsinen u. s. w. handelnd, ward von Dieben von Profession seines Alters zu einem Compagniegeschäft gewonnen, bekam sieben Jahre Transportation, kehrte nach Verbüßung der Strafe nach London zurück und lebte wie Hunderte vom Ein- und Wiederverkauf der Hasen- und Kaninchenfelle, aus denen die Leute das Fleisch herausgegessen. In diesem Geschäft störten ihn eines Tages zwei Policemen, welche verlangten, in seinen Sack zu gucken. Er verweigerte dies und ließ sich lieber arretiren, um vor einen Magistrat zu kommen. Aber weder der Polizei-Inspektor noch der Magistrat ließen ihn zu Worte kommen, weil er ein entlassener Sträfling sei. In verschiedenen Städten von Polizei und Publikum umher- und zurückgestoßen, gelang es ihm endlich, in London mit Hülfe eines mitleidigen Verwandten, einen neuen Straßenhandel zu beginnen, der ihn soweit und sogar seine waschende Frau ganz erträglich ernähre. Er sei nur gekommen, weil er aus Erfahrung sprechen und vielleicht etwas dazu beitragen könne, das Loos seiner viel unglücklicheren Kollegen erleichtern zu helfen.

Auch ein Maurer sprach aus demselben Grunde. Ihm gehe es gut, da er Arbeit gefunden, aber Hunderte seiner Unglücksgenossen kämpften noch zwischen Hunger und Verbrechen.

Nachdem sich eine Menge der Anwesenden offen und ohne Heuchelei über ihre Vergangenheit und ihre Schicksale ausgesprochen, schloß Mr. Mayhew die Versammlung mit einer Rede, in welcher er hervorhob, daß seine Ueberzeugung, Publikum und Polizei und die halbe Humanität des ticket-of-leave-Systems hätten mehr Schuld am Verbrechen, als die Verbrecher selbst, nur bestätigt und befestigt worden sei.

Er wolle zur Correctur dieser Halbheiten und Heucheleien beitragen, was er als einzelnes Individuum könne und Philanthropen, humane, ehrliche Männer vereinigen, welche die Bemühungen emporstrebender Gefallenen unterstützen würden, bis sie wieder auf eigenen Füßen ständen. – Eine Vereinigung dieser Art ist bereits zu Stande gekommen.

Dieser Verein giebt Geld, um die Entlassenen in den Stand zu setzen, ein selbständiges Geschäftchen, besonders einen Handel auf den Straßen, anzufangen, weil die Polizei hier die geringste Macht habe, sie zurückzustoßen und das Publikum keines Sittenzeugnisses bedürfe, um Aepfel oder Apfelsinen, Austern oder Wasserkresse, Kartoffeln oder Kraut zu kaufen.

Das ist eine schwache Correctur des halben Humanitätssystems und der tugendhaften Abgeschlossenheit des Publikums; aber England ist in dieser Sphäre doch bereits weiter, als einige andere „christliche“ Staaten, die noch nicht einmal an halbe Humanität gedacht haben.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 217. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_217.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)