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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

zählte, war sie doch schöner wie je; des Abends sah ich sie manchmal in der Mitte der ehrwürdigen Alten und ihrer lieblichen Kinder; es war eine raphael’sche Madonna in der Mitte der heiligen Familie.

Aber selbst dieses halbe Glück sollte nicht dauern.

Eines Abends erging ich mich vor meinem Hause und betete mit lauter Stimme, wie das meine Gewohnheit war, das Brevier, als ich Jemand hinter mir her laufen hörte; eine wohlbekannte Stimme rief:

„Mein lieber Meister!“

Und plötzlich fühlte ich mich umarmt, und fast in die Höhe gehoben; es war schon Dämmerung, aber trotzdem war keine Täuschung möglich – es war Tonietto!

Wenn ich je an Gespenster geglaubt hätte, so hätte ich sicher denken müssen, es wäre sein Geist, und er käme, um mich für den Antheil zu strafen, den ich an Maria’s Hochzeit trug. Ich gestehe, ich war so bestürzt, daß ich, wenn auch nur einen Augenblick, so dachte. Aber die Wirklichkeit ließ keinen Zweifel übrig.

Bestürzt, vernichtet, außer mir, nahm ich maschinenmäßig Tonietto am Arme, und zog ihn ungestüm in’s Haus.

Er bemerkte den Eindruck, den seine Ankunft auf mich gemacht hatte; er wechselte die Farbe, seine Stimme zitterte:

„Mein Vater?“ fragte er, „mein Bruder?“

„Sie leben –, aber wir müssen den Greis auf diese große Freude vorbereiten –“

„Und Maria?“

„Ihre beiden Brüder fielen, kurz nachdem die Nachricht von Deinem Tode eingegangen war.“

„Und Maria?“

„Sie lebt.“

Es entstand eine Pause von etwa zwei Minuten. Ich hatte den Muth, sie zu unterbrechen.

„Hast Du denn niemals schreiben können seit sechs Jahren?“

„Ich habe sehr oft geschrieben. Aber ich fürchte, ich fürchte, Ihr habt nur meine ersten Briefe erhalten; die andern, wenigstens seit zwei Jahren müßt Ihr sie doch erhalten haben?“

„Nein, nein,“ rief ich verzweifelnd, „nein, nichts haben wir erhalten! Und seit zwei Jahren –“

Tonietto unterbrach mich:

„So habt Ihr mich seit mehr als sechs Jahren todt geglaubt? Das fürchtete ich; und dann – dann kam mir ein Gedanke, den ich verjagte, als ob ihn ein böser Geist mir zuflüsterte, ein Gedanke, der mich vor Schmerz getödtet hätte. O, froh kam ich an, als ob es möglich wäre, nach zehn Jahren noch unberührt das Glück zu finden, wie ich es beim Scheiden verließ. Armer Giovanni! armer Filippo! arme Maria!“

„Maria“ – sagte ich; ich hoffte, daß er mich fragen würde.

Aber er sprach kein Wort. Hätte es sich um Leben und Tod meines eigenen Vaters gehandelt, ich hätte es nicht aussprechen können, das ich sagen wollte: „Maria ist nicht mehr Dein.“

Endlich begann er wieder:

„Und wenn Ihr seit zwei Jahren meine Briefe erhalten hättet?“

„So wären sie doch noch zu spät gekommen.“

Und ich athmete auf, fast glücklich, daß das Wort gesprochen war. Ich erhob den Blick zu dem Gesichte des Soldaten, und, traurig zum Sterben, las ich dort alle seine Mühsale, alles Elend, alle Schmerzen, die er erduldet hatte, und es schien mir, als läse ich dort auch all’ den Jammer, den die Zukunft ihm noch bieten sollte.

Noch ein paar Minuten stand er schweigend, dann machte er ein paar Schritte, runzelte die Stirne, erhob das Haupt und sagte:

„Lassen Sie uns zu meinem Vater gehen, und dann –“

Ich folgte ihm und wir gingen zusammen bis zu seinem Hause.

Den Empfang, den Jubel seines Vaters und seines Bruders, die Thränen, die dem Soldaten über das rauhe Gesicht herabstürzten, will ich nicht beschreiben. Ich suchte Francesco auf, der es übernahm, Maria die Nachricht mitzutheilen. Wie er das gethan? Ich weiß es nicht, ich habe es nie erfahren. Das war ihr Geheimniß; niemals wurde davon gesprochen.

Drei Tage später, wie mich Francesco gebeten hatte, führte ich des Abends Tonietto hin.

Der traurigste von den Dreien schien Francesco. Maria kam uns mit dem Lächeln eines Engels entgegen. Ihr Gesicht war eigentlich weniger ruhig. Sie reichte Tonietto die Hand.

„Gott sei gelobt! Wer, bei Gott, durfte erwarten, Euch vor dem Paradiese wiederzusehen? Wir hatten keine andere Hoffnung mehr, Francesco und ich.“

Die Kniee des Soldaten zitterten; er hatte nicht die Kraft zu sprechen; er nahm die Hand Maria’s und Francesco’s, legte sie in seine beiden Hände, und küßte sie mehrmals.

Dann sah er plötzlich in einem Winkel des Zimmers die beiden Kinder; er stürzte ungestüm auf sie zu, umarmte sie leidenschaftlich wiederholt, und nahm das größte von ihnen auf seine Kniee. Das Kind sträubte sich und schrie. Maria rief ihm zu, um es zu beruhigen.

„Tonietto! Tonietto!“ rief sie.

Der Soldat machte eine heftige Bewegung. Einen Augenblick hatte er geglaubt, daß sie sich an ihn wende. Aber schnell errathend, daß man dem Kleinen seinen Namen gegeben, drückte er ihn von Neuem in seine Arme, küßte ihn, und vergrub dann sein Gesicht in den blonden Locken des Kindes, um die Thränen zu verbergen, die er nicht mehr zurückhalten konnte.

Endlich, nach und nach, wurden Alle etwas ruhiger. Francesco brachte die Rede auf Tonietto’s Erlebnisse. Er fragte ihn, wie er dem Tode entronnen sei nach der schrecklichen Wunde, die er bei dem Uebergang über die Beresina erhalten haben sollte.

Tonietto erzählte kurz und einfach. Er war nicht in die Brust getroffen, sondern nur die Schulter ihm zerschmettert worden, und bewußtlos zu Boden gestürzt, war er erst wieder zu sich gekommen, als die Russen im Begriffe waren, die Leichen zu plündern. Ihn selbst hatten sie fast nackt liegen lassen, als zufällig ein ganz junger Offizier vorüber kam, der, von seinem Elend gerührt, ihn in’s Lazareth bringen und ihm, wenn auch nicht Alles, doch wenigstens seine beiden Ehrenkreuze zurückgeben ließ, die er von da an beständig trug.

Nach einigen Monaten, im Sommer, war er geheilt. Mit einer Colonne Kriegsgefangener legte er nochmals die traurige Strecke zurück, die er schon einmal mit der flüchtigen Armee durchwandert hatte. Er kam nach Moskau zurück. Von da war er an die Grenzen Sibiriens geschickt worden.

Dort zerstreute man die Colonne. Man schickte die Gefangenen hier und dort hin; kaum einige Sous gab man ihnen, um ihr Leben so lange zu fristen, bis sie eine Stelle finden konnten.

Tonietto erhielt durch Zufall eine Stelle als Verwalter bei einem Vornehmen des Landes. Dieser gewann ihn lieb, und war ganz unglücklich, als im Anfange des Jahres 1815 die Kriegsgefangenen frei erklärt wurden.

Aber die Gefangenen hatten Sibirien noch nicht verlassen, als schon auf die Nachricht von dem Ausbruch des letzten Krieges mit Frankreich ein Gegenbefehl eintraf. Der Gutsherr war ihm nachgeeilt und hatte ihn nach seinem Schlosse zurückgebracht; aus Furcht, daß er ihm nicht nochmals entrönne, unterschlug er seine Briefe, und suchte ihm die Ereignisse, die sich zutrugen, zu verbergen.

Aber endlich hatte Tonietto Alles erfahren. Er war entflohen, und hatte sich an den Gouverneur der benachbarten Stadt gewendet.

Hier unterbrach der Soldat seine Erzählung. Ich errieth, was er hatte sagen wollen, und verstand das Gefühl, das ihn schweigen ließ. Es war offenbar die Zeit, wo er wieder angefangen hatte, zu schreiben, in der sichern Hoffnung, daß nun jedenfalls seine Briefe ankommen würden.

Er schwieg, wie es schien, heftig bewegt. Dann brach er kurz ab.

„Der Gouverneur,“ sagte er, „verzögerte meine Abreise mehr als ein Jahr lang, unter tausenderlei Vorwänden; endlich, vor sechs Monaten, ließ er mich frei. Aber während dieses Jahre langen Abwartens hatte ich die kleine Baarschaft, die ich mir in der Gefangenschaft gesammelt hatte, ganz ausgegeben; so sah ich mich gezwungen, ohne alle andern Hülfsmittel, als die den Gefangenen bewilligten Etappen, zu Fuße die Rückreise anzutreten. Meine Wunden verursachten mir entsetzliche Leiden; mehr als einmal blieb ich auf dem Wege liegen; noch mehr, mehr als einmal mußte ich meine Kreuze verbergen, und – betteln.“

Ich sah, wie er hier auf’s Neue weich wurde. Auch Maria konnte ihre tiefe Rührung kaum mehr verbergen. Ich stand daher schnell auf, nahm Abschied, und wir gingen zusammen weg.

Seitdem bemerkte ich nie mehr, weder an ihm, noch an Maria, einen zweiten Moment der Schwäche. Gewiß, sie fühlten sich

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