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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

No. 26. 1856.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redakteur Ferdinand Stolle.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.

Mesmer in Wien.
Von L. Mühlbach.
(Schluß.)

Die allgemeine Aufmerksamkeit hatte sich jetzt wieder ausschließlich der Künstlerin zugewandt, und mit bewundernder Theilnahme folgte man ihrem herrlichen Spiel und dem meisterhaften Vortrag dieses erhabenen Trauermarsches aus Gluck’s Orpheo.

Auf einmal stockte sie und hielt mitten in einem angefangenen Takt inne. Ihre Augen hefteten sich mit entsetztem Ausdruck bald auf die Noten, bald auf ihre Hände, welche mit hastiger Beweglichkeit über die Tasten hin und her fuhren. Ihr Vater, welcher neben ihr stand, und ihr die Notenblätter umgewandt hatte, betrachtete sie mit einem kalten, spöttischen Blick. Er sah die tödtliche Angst, die aus ihren Mienen sprach, er sah, wie sie bleich geworden war, und mit einem Ausdruck des Entsetzens ihre hüpfenden Finger betrachtete. Jetzt schien sie sich innerlich zusammenzuraffen und fest und sicher spielte sie weiter. Aber nur wenige Takte, alsdann stockte sie abermals, und ein vollkommener Mißton unterbrach ihr Spiel.

Therese schauderte, sie wagte es nicht, hinüber zu sehen nach Mesmer, der unbeweglich, mit niedergeschlagenen Blicken da stand; mit einem tiefen Seufzer schloß sie die Augen.

Aber nun auf einmal schien wieder Leben und Kraft sie zu durchströmen und mit erneuerter Energie spielte sie weiter. Wie Schmetterlinge flatterten jetzt ihre Hände über die Tasten hin, wie Perlen rollten die Läufe auf und nieder und dazwischen, in mächtigen, vollen Accorden ertönte die feierliche, majestätische Melodie des Trauermarsches.

Das Publikum, ganz hingerissen von Bewunderung, war kaum noch im Stande, seinen Enthusiasmus zurückzuhalten und die Künstlerin nicht mitten im Spiel mit einer Beifallssalve zu unterbrechen.

Plötzlich aber legte Herr von Paradies seine Hände mit einer ungestümen Bewegung auf die kunstfertigen Finger seiner Tochter, und machte sie verstummen.

„Du spielst schon seit langer Zeit nicht mehr die Noten, welche dastehen!“ rief er entsetzt. „Das, was Du da spielst, ist eine freie Phantasie aus der Oper „Orpheo“, aber es ist nicht der Trauermarsch, der hier vor Dir liegt. Ich frage das verehrte Publikum, ob ich Recht habe, oder ob das wirklich der berühmte Trauermarsch ist, den wir Alle kennen, und der hier auf dem Pulte steht?“

Eine tiefe Stille trat ein, dann sagte eine ernste Stimme: „Nein, das war nicht der Trauermarsch, aber es war eine schöne und herrliche Zusammenstellung von Melodien aus dem Orpheo.“

Herr von Paradies stieß einen Schrei aus, und mit dem Ausdruck tiefsten Schmerzes die Arme um den Nacken seiner Tochter legend, rief er: „O, mein armes, geliebtes Kind, es ist also doch wahr, was ich so lange und mit so bittrem Schmerz befürchtete! Das Wunder bestätigt sich nicht, und meine arme geliebte Therese ist blind und wird blind bleiben so lange sie lebt!“

„Vater!“ schrie Therese, entsetzt emporspringend, „Vater, Du weißt –“

„Ich weiß, daß Du blind bist,“ rief er, sie unterbrechend, und sie fest in seine Arme drückend. „Komm, meine arme Therese, komm, und weine nicht! Verzage auch nicht, noch ist Dein Vater da, der wird Dich stützen und führen, und Dir seine Augen leihen und für Dich sehen. O, mein Kind, mein Kind, Gott vergebe es Denen, welche in unsern Herzen so trügliche Hoffnungen entzündeten! Jetzt ist Alles verloren, Alles hin! Du bist und bleibst blind, und Dein armer Vater kann nur über Dich weinen.“

Das Publikum hatte mit tiefer Rührung diesem glühenden und schmerzlichen Ausbruch der väterlichen Zärtlichkeit zugehört, hier und da sah man die Damen ihre Batisttücher an die Augen drücken, hörte man halblaute Worte der Theilnahme.

Nur Herr Professor Barth ließ sich nicht fortreißen von der allgemeinen Rührung, und als er an dem erbleichten Antlitz seines Freundes Ingenhaus gewahrte, daß auch dieser voll Mitgefühls für den schmerzbewegten Vater sei, flog ein höhnisches Lachen über seine harten Züge hin.

In diesem Augenblicke tönte ein gellender Schrei von Theresens Lippen, mit Ungestüm suchte sie sich aus seinen sie umschließenden Armen frei zu machen.

„Vater, laß mich los!“ rief sie. „Ich bin nicht blind, ich bin geheilt! Mesmer hat mir mein Augenlicht wieder gegeben, und ich kann sehen, aber was ich sehe, ist fürchterlich, o fürchterlich!“

Und mit einem dumpfen Schmerzenslaut sank sie ohnmächtig wieder zurück in die Arme ihres Vaters.

Er hob sie in seine Arme empor, sein bleiches, schmerzzuckendes Antlitz mit einem flehenden Ausdruck dem Publikum zuwendend, grüßte er es zum Abschied mit einer leichten Bewegung des Hauptes, und schwankte dann mit seiner rührenden und traurigen Last der Ausgangsthür des Saales zu.

Das Publikum blickte ihm schweigend und tief gerührt nach, bis die Thür hinter ihm geschlossen, dann erhoben sich Alle mit geräuschvollem Stuhlrücken. – Das Schauspiel war zu Ende, aber

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 337. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_337.jpg&oldid=- (Version vom 19.2.2017)