Seite:Die Gartenlaube (1856) 351.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

Du weißt, daß ich ohne zu rauchen nicht reisen kann. Du bist kein Raucher, wechseln wir die Plätze.“

Der Senator stieg aus, Lorenz stieg ein, ohne ein Wort zu entgegnen. In demselben Augenblicke schloß der Schaffner eilig die Thür. Der Senator hatte kaum noch so viel Zeit, um den folgenden Wagen zu besteigen, in dem er sich mit der Kammerfrau der Landdrostin allein befand. Die Glocke gab das Zeichen, und der Zug setzte sich in Bewegung.

„Wo ist der Conducteur?“ fragte plötzlich die Landdrostin, die einen Entschluß gefaßt hatte. „Conducteur!“ rief sie, indem sie sich umwandte.

„Sie werden ihn nicht mehr sprechen können, Madame, da der Zug bereits im Gange ist!“ antwortete ehrerbietig eine sanfte Stimme.

„Himmel, was ist das?“

„Es ist zu spät, Madame! Sie müssen sich bis zur nächsten Station gedulden.“

Die Dame starrte den langen Lorenz in seiner amaranthfarbenen Livree an. Noch immer hielt er das Glas in der Hand und die Flasche unter dem Arme.

„Wer ist Er, mein Freund?“

Lorenz lächelte mit seinem devotesten Lächeln.

„Ich bin kein Raucher, liebe Madame; beruhigen Sie sich nur!“ antwortete er. „Mein Herr will Ihnen nicht lästig fallen, und darum hat er mit mir den Platz gewechselt.“

„Das ist zu arg,“ flüsterte erbleichend die Dame. „Diese Impertinenz! Ein Livreebediente sitzt mit mir in einem Coupé! Mir schwindet die Besinnung!“

Sie zog ein kleines goldenes Flacon hervor, und hielt es unter die Nase. Lorenz, ein guter, gemüthvoller Mensch, ahnte die Bedeutung nicht, welche die Dame seinem Erscheinen unterlegte; eben so wenig hatte er einen Begriff von ihrem Charakter.

„Madame,“ sagte er mitleidig, „Ihnen ist unwohl – darf ich Ihnen von diesem echten Madeira ein Gläschen anbieten? Er erwärmt den Magen und bringt das Blut in Wallung.“

Die Frau Landdrostin sah ihn mit einem durchbohrenden Blicke an; ihre Gesichtsmuskeln zuckten und ihre Lippen bebten. Sie war in tiefster Seele verletzt – der Herr hatte ihr Cigarren geboten, und nun bot ihr der amaranthfarbene Bediente Madeira.

„Mein Freund,“ sagte sie stolz, „ich bin gewohnt zu befehlen, wenn ich bedient sein will! Werfe Er augenblicklich die Flasche und das Glas, deren Anblick mir Ekel bereitet, durch das Fenster!“

„Verzeihung, Madame!“ stammelte der bestürzte Lorenz.

„Nehme Er den Hut ab!“ fuhr die erbitterte Landdrostin fort.

Lorenz setzte seinen betreßten Hut auf den Boden.

„Und nun entferne Er die Flasche!“

„Nein, Madame, ich werde das Frühstück meines Herrn, der nur Wein aus seinem Keller trinkt, nicht entfernen,“ antwortete fest der treue Diener. „Außerdem begreife ich nicht, warum Sie so erbittert gegen mich sind, da ich es doch gut mit Ihnen meine. Sie brauchen sich nicht zu geniren, aus dem Glase meines Herrn zu trinken – wenn Sie wüßten, wer er wäre – –“

„Ich will es nicht wissen. Und nun schweige Er!“

Der arme Lorenz saß wie eine Statue da. In diesem Tone hatte sein Herr, obgleich er ihm schon dreißig Jahre diente, noch nie mit ihm gesprochen. Lorenz hing mit einer unerschütterlichen Ergebenheit an seinem Herrn, und der Senator schätzte den Diener, wie ein altes liebgewordenes Möbel. Der gute Alte fühlte sich tief verletzt, zumal da er keinen Anlaß zu dieser Behandlung gegeben hatte.

„Die Frau muß närrisch sein!“ dachte er. „Ich will schweigen, so lange ich kann; aber wenn sie es mir zu arg macht, werde ich ihr deutlich zu erkennen geben, daß sie mich sehr wenig kümmert. Ich freue mich, so oft ich eine Frau kennen lerne, daß mein Herr nicht verheirathet ist. Ich will lieber ein halbes Dutzend Männer, als eine Frau bedienen.“

Lorenz hatte sich über seine Begleiterin weiter nicht zu beklagen, denn sie verschmähete es, ihn auch nur eines Blickes zu würdigen; Glas und Flasche auf dem Schooße, dachte er über das angeregte Thema so lange nach, bis er einschlief. Die Landdrostin wurde erst dann aufmerksam auf diesen Zustand größter Ruhe ihres Nachbars, als er ihn durch ein lautes Schnarchen verrieth.

„Mein Gott,“ flüsterte sie, „soll ich denn das Ziel meiner Reise nicht erreichen, wollen mich denn diese Menschen tödten? Welch’ ein widerwärtiges gemeines Geräusch! Vorhin hätte ich mir Mund und Nase zustopfen mögen, jetzt wäre es nöthig, daß ich mir die Ohren verstopfte. Selbst die erste Klasse unserer Staatseisenbahnwagen schützt vor der Berührung des Pöbels nicht – ich werde bei meiner Rückkehr diesen beklagenswerthen Mangel höchsten Orts zur Sprache bringen.“

Das graue, halb kahle Haupt des alten Lorenz hatte sich auf die Brust herabgesenkt; dadurch ward sein Athmen so geräuschvoll, daß es wirklich stärkere Nerven, als die der Frau Landdrostin, unangenehm berühren mußte. „Bediente, Bediente!“ rief sie mehr als einmal. Aber der Bediente war so fest von Morpheus Armen umschlungen, daß Worte ihn nicht zu befreien vermochten. Es gab kein anderes Mittel, dem entsetzlichen Concerte ein Ende zu machen, als die Berührung. Aber womit sollte sie ihn berühren – mit der Hand? Nein, das konnte sie nicht über sich gewinnen! Noch überlegte die aristokratische Dame, und sie dachte bereits an einen derben Fußtritt, als das Pfeifen der Maschine und die langsamere Bewegung des Zuges eine Station ankündigten. Gott sei Dank, hier konnte sie die Folterqualen enden. Kaum stand der Zug, als sie an das Fenster klopfte, und nach dem Schaffner rief. Aber der gute Mann, der einzige Retter aus der Noth, war nicht zu sehen, denn er entließ die Passagiere, deren Ziel Oschersleben, die gegenwärtige Station, war. Statt seiner zeigte sich Susanne, die Kammerfrau, auf dem Perron. Die Herrin gab der Dienerin durch Zeichen ihren lebhaften Wunsch zu erkennen. Susanne verschwand, um den säumigen Beamten an seine Pflicht zu erinnern. Während dieser Zeit betrachtete die Landdrostin den Bedienten; er schlief und schnarchte fort. Vier Minuten verflossen. Da endlich erschien Susanne mit dem Schaffner und die Thür des Gefängnisses ward geöffnet. Die Reisende stieg aus.

„Madame, der Zug fährt im Augenblicke weiter! Ich bitte, behalten Sie Ihren Platz.“

„Unmöglich!“

„Das Zeichen ist gegeben – der Schnellzug wartet nicht!“

„Susanne, wo ist Dein Wagen?“ fragte die Dame, die sich nicht entschließen konnte, in der Gesellschaft des schlafenden Bedienten weiter zu reisen.

„Dort!“ sagte Susanne, indem sie auf den nächsten Wagen deutete, dessen Thür offen stand.

Die Maschine stieß einen gellenden Schrei aus.

„Ich muß schließen, meine Damen!“ rief der Schaffner, indem er die Thür des Coupé’s erster Klasse ergriff. !

Der Landdrostin blieb nichts, als dem Beispiele des Senators zu folgen.

„Susanne, nimm meinen Platz, ich werde den Deinigen nehmen!“ rief sie, getrieben von dem Drange der Umstände.

Die bebende Zofe führte den Befehl aus, und der Schaffner schloß die Thür. In diesem Augenblick bewegte sich die Wagenreihe.

„Schnell, Madame, schnell, oder Sie müssen zurückbleiben!“

Der Schaffner hob die Dame in den folgenden Wagen und schloß hastig die Thür hinter ihr. Der Schnellzug brauste davon. Halb ohnmächtig war die Landdrostin in den Sitz gesunken, denn sie hatte den furchtbaren Raucher beim Einsteigen erblickt, den einzigen Passagier in dem Coupé. Die arme Frau war aus dem Regen in die Traufe gekommen. Der Senator konnte sich eines Lächelns nicht erwehren, denn er begriff und billigte das Mißgeschick der edeln, stolzen Frau, die ihn in seiner Würde gekränkt hatte. Er war nicht rachsüchtig; aber diese kleine, von dem Zufalle gefügte Züchtigung machte ihm Vergnügen. Nachdem er noch einige lange Züge gethan, öffnete er lächelnd das Fenster und warf zum zweiten Male seine Cigarre hinaus. Dann wickelte er sich in den Pelz, legte sich zurück, und schloß die Augen.

Diese Höflichkeit und diese Verachtung machten ihn der Landdrostin noch verhaßter, als er ihr bereits war. Sie fühlte das Lächerliche ihrer Situation, und eine Frau, sie sei jung oder alt, kann dem Manne nie verzeihen, der sie lächerlich gemacht hat. Die beiden Passagiere wechselten kein Wort, keinen Blick. Nach einer Stunde kamen sie in Magdeburg an; hier trennten sie sich

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 351. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_351.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)