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zu lernen, und sie unterhielt sich mit den hohen Herrschaften eben so „lustig“, wie mit ihres Gleichen. Die andern Mädchen stehen ihr wahrlich nicht viel nach, da sie aber auf allen Bäumen wachsen und keine Gastwirthstöchter sind, so ist von Einzelnen nicht so viel Gerede, wie zu seiner Zeit von der Elephantine war.

Zu der schönen Natur und dem schönen Menschenschlage steht die Geschichte dieser Gegend im Einklang, und auf keine andere hat die Sage, die poetische Schöpfung des Volks, so viel duftende Kränze geworfen. Da ist kein Berg, kein Thal, kein Fels und kein Bach, von welchen sich das Volk nicht reizende Dichtungen zu erzählen weiß. Der Aberglaube, das so oft verkannte und thöricht geschmähete Kind einer längst vergangenen Zeit, blüht hier noch in manchen Beziehungen kräftig, wie eine tausendjährige Eiche, auch zum Beweis, daß diese Gegend der Sitz eines großartigen Kultus unserer heidnischen Vorfahren war. Denn im deutschen Polytheismus wurzelt er, und aus ihm saugt er noch heute seine Lebenskraft, wenn er auch das Kreuzeszeichen zur Schau trägt.

So ist überall Poesie auf dieses kleine Stück Erde gestreut, wie duftende Blüthenflocken, und die Menschen dieser Berge und dieses Thales erfreuen sich ihrer. Sie lieben die schöne Natur, den Frohsinn, das Vergnügen, sie lieben Musik und Gesang, und musiciren und singen selbst nach Herzenslust, sie lieben die Singvogel, die Tauben, die Blumen, und ihre Liebe äußert sich meist auf originelle Weise. Inzwischen hat sich doch vieles von der alten kernigen Naivetät verloren, und die Kultur hat auch die Kinder des Ruhlathales nicht allein äußerlich beleckt. Seit hundert Jahren schwindet die Volkstracht mehr und mehr, hat sich das Idiom, die Sprache der alten Thüringer, der hochdeutschen Aussprache mehr und mehr genähert und die frischen, brennenden Farben des Aberglaubens sind zu unbestimmten Tönen verblichen und verschwommen. Man erzählt die Sagen jetzt als Kuriositäten, und die Liebhaberei der Finken, Tauben, der Nelken, und Aurikel hat die flagrante Leidenschaftlichkeit der Altvordern verloren. Will man die heutigen Rühler ganz verstehen, so muß man die Rühler aus der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts betrachten. So weit kennen wir sie aus mündlicher und schriftlicher Ueberlieferung. Was weiter zurückliegt, ist nur Geschichte, nicht mehr Sittenbeschreibung.

Ruhla ist höchst wahrscheinlich einer der ältesten Orte im Gebirge, doch hat er früher weiter östlich in einem höhern nach dem Gebirgskamm sich emporsehenden Thale gelegen, welches noch heute „die alte Ruhl“ heißt. Der Sage, daß die ältesten Einwohner aus Tirol eingewandert seien, jedenfalls aus der Lautähnlichkeit (die Ruhl, Tirol) entstanden, widersprechen Mundart und Sitte, welche ächt thüringisch sind. Da ist kein Laut, der an ein anderes Land erinnerte, am wenigsten an Tirol. Die alten eigenthümlichen Spiele und Tänze haben das unverkennbare Gepräge autochthonischer Originalität.

Die früheren Bewohner Ruhla’s waren zumeist Waffenschmiede, und der nahe Hof der Landesfürsten, der Landgrafen von Thüringen, auf der Wartburg, mochte ihnen guten Verdienst gewähren; außerdem Hammerschmiede, Bergleute, Köhler. Nach dem Verfall des Ritterthums wurden allmälig Messerschmiede aus ihnen. Als solche treten sie mit scharf ausgeprägter Physiognomie in unsern Gesichtskreis. Aber so schlau und so thätig sie auch sind, es fehlt ihnen die Genialität der Industrie. Sie verstehen es nicht, mit der Zeit fortzuschreiten, geschweige ihr voran zu gehen. Wie sie sich wahrscheinlich erst als Waffenschmiede von andern hatten überflügeln lassen und deshalb gezwungen gewesen waren, zur Messerfabrikation zu greifen, so ließen sie sich in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts den Rang auch in diesem Industriezweig ablaufen, und auch sie kam in Verfall. Dafür kam das Verfertigen von Pfeifenköpfen aus Holz, Thon, Meerschaum, und das Beschlagen derselben und der Porzellanköpfe mit Messing auf. Doch auch dieser Nahrungszweig ist schon seit Jahrzehnten sehr precär geworden und geht seinem Verfall entgegen. Andere Nahrungszweige tauchen auf, wie denn seit Kurzem eine nicht unbedeutende Portemonnaisfabrik errichtet worden ist. Uebrigens leidet der schöne freundliche Ort an allem Elend des Fabrikwesens, physischem und moralischem, das zum starken Dämpfer des sonst so lustig aufjauchzenden Volksgeistes geworden ist.

Ruhla wäre jedenfalls eine eben so große und blühende Bergstadt wie Suhl, wenn die Zerspaltung des Orts ihn nicht in seiner Entwicklung aufgehalten hätte. Als die Fürstenthümer Koburg und Eisenach, welche die beiden Herzöge und Brüder Johann Kasimir und Johann Ernst erst gemeinschaftlich und dann getheilt, jener Koburg, dieser Eisenach regiert hatten, bis sie nach Johann Kasimir’s Tode wieder auf eine kurze Zeit unter Johann Ernst vereint worden waren, nach dem Tode des letztern 1638 an die verwandten Fürstenhäuser von Weimar und Altenburg fielen, und die Söhne des früh verstorbenen Herzogs Johann von Weimar ihre Landesportion unter sich theilten – ein unseliger Gebrauch deutscher Fürstenhäuser, welcher die gesunde Blüthe Deutschlands sehr geschädigt hat – erhielt Herzog Ernst, welcher in der Geschichte den Beinamen des Frommen führt, in der Ländertheilung vom Jahre 1640 das gothaische Land, Herzog Albrecht, sein jüngerer Bruder, das eisenacher, und beide Bezirke wurden selbstständige Fürstenthümer. Es war gewiß kein guter Einfall, daß im Ruhlathale das Flüßchen Ruhla, wahrscheinlich Rolla, d. i. rollendes, stürzendes Wasser, von welchem der große Gebirgsort den Namen erhalten hat, als Grenzscheide der beiden Fürstenthümer bestimmt wurde. Denn da der Bach, von jener Bestimmung Erbstrom genannt, den Ort in zwei ziemlich gleiche Theile scheidet, so erhielt die südwestliche Hälfte den eisenacher Herzog zum Herrn, der nordöstliche den gothaer. Der untere, westliche und größere Theil der gothaischen Hälfte stand wiederum in einem Lehnsverhältniß zu den Herren von Uetterodt zu Scharfenberg in Thal; der obere oder östliche gothaische Theil gehörte dagegen zum Amte Tenneberg. So bestanden in Ruhla drei Gemeinden und dreierlei Regiment. Die dadurch herbeigeführten Nachtheile wurden durch eine merkwürdige, fast republikanische Handels- und Gewerbefreiheit ausgeglichen, die in jetziger Zeit, wo die allein zünftigen Messerschmiede nicht mehr existiren, noch bedeutender ist. In der Ruhl kann, wie in Nordamerika, Jeder zu seiner Nahrung treiben, was er will; kein Zunftzwang und kein Gesetz hindert ihn daran. Schon dieser Umstand allein macht den Ort zu einem der merkwürdigsten in Deutschland.

Der eisenachische Grund und Boden in Ruhla hieß nach dem officiellen Sprachgebrauch „meines Herrn Ort“, und davon „die herrnört’sche Seite“, „die herrnört’sche Gemeinde“ und die derselben angehörigen Einwohner kurzweg „die Herrnört’schen.“ Das von ütterodt’sche Lehnsbesitzthum wurde „auf Uetterodt“, „die ütterodt’sche Seite, die ütterodt’sche Gemeinde“ und die ihr Angehörigen „die Uetterödt’schen“ oder vielmehr nach rühler Aussprache „die Uetteröh’schen“ genannt; der dem Amtsbezirk Tenneberg endlich zugehörige Ortstheil hieß der „tennebergische (vulgo: temmer’sche) Boden“, die Bewohner desselben „die Temmer’schen.“ Seit die im Gothaischen gelegenen ütterodt’schen Güter Staatseigenthum geworden, sind die beiden letztern Gemeinden zu einer verschmolzen, welche zum Amtsbezirk des Gerichtsamts Thal gehört. Früher hatte der Ort natürlich nur eine Kirche; als die fürstlichen Brüder getheilt hatten, baute sich die eisenacher Gemeinde eine zweite. Im Theilungsreceß wurden eine Anzahl rechtlicher Bestimmungen stipulirt, sogenannte Gemeinderechte, die bei friedlicher Gesinnung der beiden Fürstenhöfe zu Gotha und Eisenach und der ruhlaer Gemeinden wohl zur Geltung kommen konnten, bei feindlicher aber leicht die Veranlassung zu bösen Streitigkeiten werden mußten. Und so kam es auch.

Der gothaische Hof war die Schule der feinsten Sitte, des zartesten Anstands, der eisenachische ein Gelag hochgeborner Wüstlinge. Diese beiden Höfe mußten sich hassen. Die Streitigkeiten und Plackereien zwischen ihnen nahmen kein Ende. Und da ging denn das alte Wort des Horaz: Quidquid delirant reges, plectuntur Achivi wieder in kleinlicher Weise in komisch bittere Erfüllung. Die eisenachischen und die gothaischen Unterthanen in Ruhla, Sprossen eines Volksstammes, Bewohner desselben Orts, deren Häuser meist nur wenige Schritte von einander lagen und eigentlich durch nichts weiter als einen Bach getrennt waren, Menschen, die im engsten Verbande der Verwandtschaft, der Sitte, der Sprache, des stündlichen Verkehrs, Gewerbes und Handels zusammen standen und gar nicht ohne einander leben konnten, die vor hundert Jahren in friedlicher Gemeinschaft unter einer Regierung gelebt hatten, entbrannten in unnatürlichem lächerlichen Haß und alberner Feindschaft gegeneinander und aus keinem stichhaltigen Grunde weiter, als weil ihre beiderseitigen Herzöge, oder vielmehr der Herzog von Eisenach und die Herzogin von Gotha nicht gut aufeinander zu sprechen waren. Die Volkspicoterie machte sich in

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