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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

„Die Zeiten der Ministeranklage (und der Größe Englands) sind vorüber“, sagt schon R. Peel. Das Schlimmste, was dem Ministerio Palmerston von den Donnerern Roebuck, Layard, Bulwer Lytton, D’Israeli (denn diese brachten auch „Todesurtheile“ gegen das Ministerium ein) für die nachgewiesenen massenhaftesten Kriminal-Verbrechen hätte passiren können, war eine lächelnde Abgabe der Staatsruder an privilegirte Kollegen und Freunde, wie auf den Sturz des aberdeen’schen Ministeriums durch Roebuck ja auch dieselben Herren und Mißverwalter sich erhoben, nur daß die beiden Wechsel-Ministerial-Herren nach Dickens einmal unter dem Namen „Lord Dudle“ das andermal unter der Firma „Lord Nudle“ auftraten. Wenn England nicht parlamentarisch gedudelt wird, geschieht’s blos deshalb, weil die „feindlichen Brüder“ es während der Zeit auch einmal nudeln wollen.

Aber Roebuck siegte doch! Freilich er zwang die parlamentarischen Herren, ihm einen großen Gerichtshof zur speciellen Untersuchung der englischen Krim-Kriminalistik zu bewilligen. Da saß der alte, gebrochene Held Wochen lang alle Tage vor dem Angesichts der Oeffentlichkeit und des preß-, rede- und versammlungsfreien Volks und verhörte Generäle, Herzöge und Autoritäten und Zeugen höchsten Ranges und stellte durch ein zwanzigfoliobändiges Protokoll fest, daß die Ermordung der englischen Armee und der alten nationalen Glorie Großbritanniens wirklich das Werk der englischen Regierer und Befehlshaber gewesen, das Werk „schmutziger Vögel, die ihr eigenes Nest verunreinigen.“ Es entstand also die Frage, die damals in besonderen Broschüren besprochen ward: „Wen sollen wir hängen?“ Die Antwort lief darauf hinaus: Das System müssen wir hängen, das englische Regierungs- und Verwaltungssystem und allenfalls noch Den und Jenen, der schon todt ist und dem man daher beliebig viel Schuld auf den Grabhügel packen kann. Aber das System ist keine Person und eignet sich deshalb auch nicht zum Hängen. Außerdem ist das System, an welchem die englische Armee starb, die einzige Lebensquelle aller respectablen Familien von hoher Geburt und dicker Kasse. Das System müssen wir also auch leben lassen, denn daran sterben ja blos Leute, die nie eigentlich „geboren“ wurden. Und was liegt an denen? Was liegt überhaupt an Englands Größe im Allgemeinen? Kümmerten sich die römischen Kaiser und ihre Hofleute um Roms Größe und Wohlfahrt? Dachten gar nicht daran, und doch lebte das römische Weltreich noch 7 Jahrhunderte, nachdem es zu sterben angefangen. – „Après nous le déluge“, denken die privilegirten Klassen. Die Sündfluth wird erst nach uns kommen. So lange wir leben, hält auch das liebe heilige römische Reich Großbritanniens noch zusammen. Und wer wird sich um ungelegte Eier der Zukunft bekümmern?

John Arthur Roebuck.

Alle roebuck’schen, layard’schen Verwaltungs-Reform-Blitze und Donner verzuckten und verhalten spurlos und die Schleußen des Himmels blieben verschlossen. Von den Reformen, welche die Regierung selbst bei Parlamentseröffnungen anzukündigen pflegt, werden in der Regel drei zurückgezogen, zwei verworfen und die drei übrigen in der „Gesetzfabrik“ so zugerichtet, daß aus Ruthen Skorpione werden. Die reformatorischen Anträge von Parlamentsmitgliedern selbst fallen regelmäßig durch oder werden mit Amendements angenommen, die nichts von der Reform übrig lassen. Und so wird der Leichengeruch immer stärker und Lord Burleigh’s Prophezeiung: „England wird nie fallen, wenn nicht durch sein Parlament,“ naht immer hörbarer, wie die Schritte des steinernen Gastes im Don Juan, um die gloriosen Friedensfeuerwerke vom 29. Mai als Höllenfeuerregen der Verdammniß zu wiederholen.

Roebuck, der durchgefallene Held der Geschichte, ist und bleibt dadurch eine Persönlichkeit, an deren Namen sich einst der bedeutendste Wendepunkt in der Geschichte des Verfalles Englands anschließen wird. Der Mann verdient näher angesehen zu werden. Aber wie sein Bild verständlich machen? Da steht er kahl ohne Vorder- und Hintergrund, ohne welchen er ein Räthsel bleibt. Die parlamentarischen Umgebungen, die sein Bild erst verständlich machen, sind aber so verwickelt und verworren, daß wir an der Möglichkeit verzweifeln, dieselben nur in groben Strichen anbringen und treffen zu können. Wir müssen uns damit trösten, daß das innere Leben des Parlaments nach und nach aus verschiedenen Bildern und Skizzen, die wir bringen werden, sich zu einem Ganzen und einer wahrheitsgetreuen Gliederung im Kopfe des aufmerksamen Lesers fügen und finden mögen.

Roebuck als Person und parlamentarische Größe läßt sich in folgenden biographischen Daten anschaulicher machen. Geboren 1801 zu Madras im englischen Indien, wo sein Vater Arzt war (wie sein Großvater, Kollege und Freund des berühmten James Watt, in Birmingham), als Knabe nach Kanada versetzt und dort erzogen, kam er erst 1824 nach England und zum eigentlichen Studium, und zwar der Rechte in dem „innern Temple“, wo das alte anglosächsische Recht gegen die parlamentarische Gesetzfabrikation noch einigen Schutz findet. Im Jahre 1832 ward er zur „Barre gerufen“ d. h. in die juristische Praxis eingeführt. Aber er war nicht berufen, für die Rechte Einzelner advokatisch zu streiten, sondern für die Gerechtigkeit gegen Alle. Zunächst rief ihn ein Ehrenamt aus seiner Privatthätigkeit zur öffentlichen. Das Parlament von Unter-Kanada bedurfte in seinem Streite mit dem Mutterlande eines Agenten in England. Es wählte dazu Roebuck, der in Kanada aufgewachsen, das Vertrauen auf seine Person und Talente dort zurückgelassen. Zugleich gab ihm die Aufregung in England, welche durch die betrügerische Reform-Bill Lord John Russel’s beschwichtigt ward (1832) Gelegenheit, seinen brennenden Eifer für das Wohl aller Klassen in energischen Reden und Flugschriften zu zeigen. Der junge Radikale ward dafür von den Wählern der Stadt Bath in’s Unterhaus des Parlaments berufen. Bald nach Eröffnung desselben 1833, als der Agitator O’Connell an den knorrigen, verworrenen Wurzeln der englischen Constitution rüttelte und die Thronrede „brutal und blutig“ nannte, stürzte sich auch der junge Roebuck mit wüthendem Eifer gegen die Person des damaligen Secretairs von Irland, dem er vorwarf, die Flamme der Unzufriedenheit, welche in O’Connell aufloderte, geschürt und genährt zu haben. Der aristokratisch-vornehme Secretair erwiederte ihm mit kaltem, verächtlichen Lächeln. „Ich verstehe

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 377. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_377.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)