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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

in der öffentlichen Meinung und mit lautem Geschrei sprengten endlich die Haufen auseinander.

„Oeffnet die Kerker!“ hieß es hier. „Schenkt den Schuldlosen die Freiheit wieder!“ hieß es dort. „Rettet! Rettet!“ hieß es überall, und einzelne Namen wurden genannt, mehr oder weniger von dem Beifall der Menge begleitet.

„Rettet! Rettet!“ rief es in einer Gruppe, an deren Spitze sich Alexis Walter gestellt hatte. „Rettet den Grafen Eugen von Steinau, den tapfern Reiteroberst! In jenem Thurm soll er schmachten. Nieder mit Denen, die sich widersetzen.“

Vor dem Drängen der Stürmenden brach die Pforte zusammen. Die Glut der Fackeln warf ein grelles Licht auf die feuchten Kerkerwände. Manches schuldlos schmachtende Opfer ward gefunden. Der Oberst war nicht darunter. Der Kerkermeister bekannte, daß man ihn in der vergangenen Nacht heimlich abholte.

„Er hat ihn mit sich geschleppt!“ hieß es in der Menge.

„Aber wohin?“

„Das weiß ich!“ rief eine helle Stimme. „Nur mir nach!“

Und rückwärts stürmte der Haufe, jenem geheimnißvollen Hause zu, welches abwärts von der Heerstraße lag, dessen dunkle Mauern manche geheimnißvolle That verdeckten.

Und dort stand auch in einem Gemache zur ebenen Erde die bleiche Rosa und sah hinaus in’s Freie. Es war seit Kurzem hier anders geworden; die Einsamkeit hatte aufgehört, Leute kamen und gingen; der dumpfe Lärmen draußen fand hier seinen Wiederhall. Theodor Steinau hatte hier seinen dauernden Wohnsitz genommen. Rosa ward in das offne Gemach zur ebenen Erde geführt, und harrte zitternd des ihr angekündigten großen Ereignisses. Da trat Theodor Steinau sehr aufgeregt ein: „Mein Spiel ist verloren, aber ich werfe es nicht weg, bis auch die letzte Karte ausgegeben ist. Mit Allen rechnete ich ab, nur mit Dir nicht. Nimm denn für alle Schmach, die ich von Dir erduldete, den Schlag, der Dich am härtesten treffen wird.“

Er führte Rosa gegen die offene Thür. Inmitten des Hofes war ein Schaffot erbaut, daneben stand der Henker mit gezogenem Schwerte. Bewaffnete führten einen Gefangenen hervor. Rosa war in der heftigsten Spannung.

Der stumme Alexis ward von dem allgemeinen Strome fortgerissen; er hörte, was geschah, er las die fliegenden Blätter, die man den Vorübergehenden zuwarf, die öffentlichen Anschläge, welche die Mauern bedeckten; er horchte auf die Stimmen Derer, die einander die Ereignisse des Augenblickes verkündeten, und folgte ihnen. Ohne auf den Weg zu achten, ging er hinaus zum Thor, und hielt, plötzlich ergriffen, seine Schritte an.

Seine Blicke fielen auf eine düstere Mauer, über welche hinweg das Dach eines Hauses ragte. An der einen Seite rauschten dichtbelaubte Bäume im Winde. Ihm war es, als ob eine Nebelwolke zerreiße und er einen Blick in das Unbegränzte thue. Welche wunderbare Gestalten! Die schöne junge Frau, die ihm in seinen Jugendträumen wie ein lichter Engel erschien, der bleiche Diener mit den Silberlocken, der hohe, kräftige Mann, mit dem Schwerte an der Seite, und der Wagen, der mit fliegender Eile vorüber sauste.

Er faßte sich an die Stirn, als könne er die Gedanken festhalten, die in ihm aufdämmerten. Unwillkürlich riß es ihn fort, der dunklen Mauer entgegen.

Durch eine enge Pforte trat er in den Hof. Der Wächter, an den er vorüberstreifte, drehte ihm den Rücken zu und deutete, zu seinem Nachbar gewendet, auf einen bestimmten Punkt. Unwillkürlich schaute Alexis dorthin, und das Blut stockte in den Adern; die Augen drängten sich aus ihren Höhlen; mit schlotternden Knieen drang er vorwärts. Das Herz pochte mit gewaltigen Schlägen. Sein Antlitz glühte.

Da stand sie vor ihm, die schöne, bleiche Frau, der Traum seiner Jugend. Sie stand, die Hände ringend, ein Bild des namenlosesten Jammers vor ihm.

In diesem Augenblicke traten die Bewaffneten auseinander und ein Mann ward sichtbar; bleich, eingefallen, barhäuptig, mit einem dürftigen Kittel bedeckt. Aber Alexis erkannte ihn doch. Es war derselbe Mann, der ihn in den Wagen hob und mit den zärtlichsten Namen begrüßte.

Die Frau schrie voll Entsetzen auf. Der Gefangene sah zu ihr auf und schwankte. Ein Mann, mit einem rothen Mantel bekleidet, trat vor. Eine düstere Gestalt stand unfern von dieser Gruppe mit übereinander geschlagenen Armen. Athemlose Stille rings umher.

Da drückte Alexis seine Hände gegen die heftig arbeitende Brust; alle seine Nerven spannten sich an; sein Mund öffnete sich; ein kreischender Ton drängte sich aus der Kehle hervor.

Die finstere Gestalt winkte und der Rothmantel enthüllte das blinkende Schwert. Aber ehe er es heben konnte, stand Alexis vor ihm und rief: „Halt! Halt!“

Alle sahen auf den Knaben. Rosa flog auf ihn zu und sank knieend bei ihm nieder.

„Mutter!“ schluchzte er krampfhaft und barg das Gesicht in ihrem Schooße.

Der finstere Mann herrschte seine Diener an, und befahl die Vollstreckung des Urtheils. Aber in diesem Augenblicke wirbelten die Trommeln, Trompeten schmetterten und an der Spitze eines bewaffneten Haufens stürmte Alexis Walter in den Hof.

Verschwunden waren Henker und Schaffot. Theodor Steinau ward ergriffen; Rosa aber hielt den wiedergefundenen Gatten fest umschlossen und an Beide schmiegte sich Alexis, der holde Knabe, dem einst das Entsetzen die Sprache raubte, die eine allbarmherzige Vorsicht ihm wieder gab, damit er seine Eltern errette.

Alexis Walter stand dieser schönen Gruppe nahe, und ein Gedanke, würdig seines edlen Meisters, dämmerte vor seiner Seele auf.




Des Kindes Bitte.

Du blicktest auf so wehmuthvoll,
Als ich dich jüngst gefangen,
Indeß im Walde frühlingsvoll
Der Vöglein Lieder klangen;
Ich wußte ja bis diesen Tag
Nicht, was ein Kerker sagen mag –
O flieg’, mein Vöglein, fliege!

Erst als ich durft’ zum Vater gehn,
Der Jahre lang gefangen,
Hab’ ich das Unrecht eingeseh’n,
Das ich an dir begangen. –
Geschwind d’rum auf das Thürelein!
Sollst wieder frei und glücklich sein.
O flieg’, mein Vöglein, fliege!

Doch eh’ du eilst zum Waldesgrün,
Dein kleines Nest zu gründen,
Flieg’ nach dem Eisengitter hin,
Dem Vater zu verkünden:
Es grüße ihn sein Töchterlein,
Das denke Tag und Nacht nur sein.
O flieg’, mein Vöglein, fliege!

Sag’ ihm, es bete früh und spat
Die Mutter mit den Kleinen
Zum lieben Gott um Trost und Rath
Zu enden unser Weinen;
Und daß er gebe unser Glück,
Uns unsern Vater bald zurück. –
O flieg’, mein Vöglein, fliege!

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 456. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_456.jpg&oldid=- (Version vom 21.8.2021)