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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

bairischen Truppen, die nach dem Brenner marschiren sollten, schon von Innsbruck aufgebrochen wären, allein man erwartete sie jeden Augenblick. Lenore begab sich wie gewöhnlich bei Tagesanbruch auf ihren Posten und setzte sich hinter einen Felsen, von dem aus sie den Engpaß übersehen konnte, ohne selbst gesehen zu werden. Alles war Stille und Einsamkeit wie bei ihren früheren Wachen; aber endlich entdeckte ihr scharfes Auge zwischen den entfernten Felsen eine springende Gemse, deren eigenthümliche Bewegung darauf schließen ließ, daß sie Menschen gesehen oder gehört habe. Es verging noch eine Stunde und endlich sah sie eine menschliche Gestalt in derselben Richtung. Diese Gestalt blieb zwei Stunden auf demselben Fleck, setzte sich auf den Felsen und schien ein Ziegenhirt zu sein, der seine Heerde überwacht; dann verschwand sie.

Einige Zeit darauf sah sie dieselbe Gestalt in der Nähe des Engpasses, wo sie sich selbst verborgen hielt. Der Mann war in der Kleidung eines ärmeren Gebirgsbewohners und mit Angelgeräthschaften versehen. Er legte sich endlich am Rande des Bergstromes nieder und schien an nichts weiter zu denken als daran, wie er ein Mittagessen erhalten könne, ehe die Sonne hoch genug heraufstieg, um jede Wahrscheinlichkeit auf Erfolg zu vernichten.

Erst als es Mittag war und die ganze Natur von der Hitze ohnmächtig schien, erhob sich der Fischer und stieg schnell die Seite der Schlucht hinauf. Es geschah dies nicht, um unter einem der Bäume Schutz vor der Sonne zu suchen; denn er erschien und verschwand bald hier und bald da, überschritt einige Mal den Bergstrom und stieg dann wieder so hoch hinauf, daß man ihn am Rande des Horizonts sehen konnte, aufrecht und stillstehend zwischen den Lärchen, mit denen die Höhen besetzt waren.

Mehr als einmal war er über eine Stunde lang unsichtbar, aber wenn er wieder zum Vorschein kam, war er stets Lenoren näher.

Endlich sank die Sonne langsam hinter das Gebirge und der Mantel der Nacht breitete sich rings umher. Sie fuhr noch fort zu spähen, allein mehr mit dem Ohr als mit dem Auge, und als endlich der zögernde Mond am Himmel heraufstieg, hatte sie die Ueberzeugung, daß der spähende Schatten noch immer umher schwebte.

Bald entdeckte ihr geübtes Ohr die Schritte eines Mannes und das Knacken der Zweige, wie er zwischen den Bäumen empor kletterte; aber der Himmel war nun so mit Wolken bedeckt, daß der Mond, obwohl beinahe voll, die Scene nur spärlich beleuchten konnte.

Durch das Geräusch naher Schritte erhielt sie die Ueberzeugung, daß der Spion in der Nähe und daß das Geheimniß des Engpasses, welches er nach ihrer Ueberzeugung suchte, nahe daran war, entdeckt zu werden.

Der Felsen, hinter welchem sie verborgen war, schien die Schlucht mit einer unübersteiglichen Barriere zu verschließen und für jeden, der sich nicht ganz genau gerade an dem Flecke befand, war es schwierig, wenn nicht unmöglich, zu muthmaßen, daß ein schmaler Pfad um den Fuß dieses Felsens herumführte und den Eingang in die ganze Schlucht eröffnete.

Lenore starrte mit Leib und Seele durch die Spalte, welche durch zwei sich nicht vollkommen berührende Felsen gebildet wurde, und die ihr bis dahin als Beobachtungsfenster gedient hatte; aber als ein Ton, welcher dem Schnaufen eines Menschen oder eines Thieres glich, ihr Ohr erreichte, stand sie, dazu durch einen unwiderstehlichen Antrieb gezwungen, plötzlich auf und sah, sich über den Abgrund lehnend, auf den Pfad hernieder.

Gerade in diesem Augenblicke tauchte der Mond aus seinem Wolkenschleier hervor und erhellte den Fleck so deutlich wie mit Tageslicht. Ein Mann stand unten, mit aufwärtsgerichtetem Gesicht und einer Hand auf dem Kolben einer Pistole in seinem Gürtel, als ob er durch das geringe Geräusch, welches sie gemacht hatte, beunruhigt worden wäre. Der Mann war ihr Bruder!

Ein unwillkürlicher Freudenschrei war die erste Aufwallung, der sich Lenore bewußt war. Es war ihr Bruder – ihr Zwillingsbruder! Sein Gesicht war gleichsam ihr eignes Spiegelbild in irgend einem schwarzen See, der von Felsen überschattet ist! Es ist unmöglich zu sagen, welches die Gefühle des bairischen Soldaten bei diesem Begegnen waren; aber aus dem stillen Anschauen beider ist es wahrscheinlich, daß er entweder mit seiner Schwester sympathisirte, oder daß eine Anwandelung eines abergläubischen Entsetzens ihm für den Augenblick Sprache und Bewegung nahm. Im nächsten Augenblick hörte man in der Ferne ein leises Pfeifen; der Mond verschwand ebenso plötzlich wieder als er erschienen war und der Spion, der schleunigst die Seite der Schlucht hinabglitt, verlor sich zwischen den Bäumen, ohne ein Wort gesprochen zu haben.

Lenore wartete eine Weile. Sie wagte es sogar endlich, den Namen ihres Bruders zu rufen, allein der mürrische Wiederhall von den Felsen war die einzige Antwort, und als dieser Laut murmelnd erstorben war, sprang sie vor Angst und Bangigkeit in die Höhe.

Was sollte sie thun? Sollte sie den Baiern gestatten, gleich einem Strom von Blut und Feuer durch das Thal, ihrer zweiten Heimath, zu streichen? Sollte sie die Sache aufopfern, mit welcher das Leben ihres Geliebten identisch war? Oder sollte sie ihren einzigen Bruder den Feinden opfern, die nach seinem Blute dürsteten?

In den Kampf ihrer Gefühle mischten sich selbst einige desselben Nationalgeistes, welcher den Handel veredelt, durch den der Schweizer seinem Herrn sein Blut verkauft. Ihr Bruder, so schien es, hatte das Vertrauen seines Offiziers; da man ihn so herumstreifen ließ, mußte er den Ruf der Treue und des Muthes, erlangt haben; er war auserwählt worden, mitten unter tausend Gefahren einen Weg für seine Kameraden auszuspähen und vielleicht das Unternehmen zu leiten.

Lenorens Herz verlangte nach ihrem Bruder, ebenso wie das Herz einer Mutter nach ihrem einzigen Sohne schmachtet. Sie dachte, wie er gewachsen seit sie ihn zuletzt gesehen – wie stark er geworden war – wie stolz von Ansehn und wie schön und tapfer – und Thränen der Liebe und des Stolzes flossen aus ihren Augen.

Diese Thränen schmolzen indessen nicht den Entschluß hinweg, den sie gefaßt hatte. Mitten in der Nacht klopfte sie an das Fenster von Hansens Schlafkammer in seiner einsamen Hütte.

Als der junge Mann sie bei dem schwachen Schein des Mondes erblickte mit ihrem blassen Gesicht und gelöstem Haar, welches über ihre Schultern flatterte, glaubte er, daß ein Geist vor ihm stände und mußte sich vor Schrecken am Fenster halten, während er ein Stoßgebet an die Mutter Gottes murmelte.

„Sei nicht erschrocken,“ sagte sie, „zieh’ Dich an, bewaffne Dich und folge mir ohne ein Wort und auf der Stelle.“ Sie setzte sich dann nieder und lehnte sich erschöpft gegen die Mauer, bis ihr Geliebter fertig war. Als er stille herauskam, sprang sie auf und glitt vor ihm hin bis sie den Fleck erreichten, wo sie ihren Bruder gesehen hatte.

„Hans,“ sagte sie, „für lange Erklärungen ist keine Zeit übrig. Die Baiern sind nahe: wie nahe, weiß ich nicht – aber näher als Du denkst. Während der Hauptpaß angegriffen wird, soll eine Abtheilung um diesen Felsen herum schleichen und von der Höhe ihrer eignen Gebirge wie ein Geier auf die Tyroler stürzen. In dieser Abtheilung – wahrscheinlich an ihrer Spitze – wird mein Bruder sein!“

Sie hatte kaum ihre Rede geendet, als Hans zum Fuße des Felsens hinuntersprang und sich in einem Augenblick von der Zugänglichkeit dieses Passes überzeugte.

„Du hast unser Dorf, vielleicht unser Land gerettet, Lenore,“ sagte er, als er zurückkehrte.

„Höre, ich habe noch etwas zu sagen.“

„Sprich, während wir gehen; stütze Dich auf meinen Arm und laß uns so schnell nach Hause, als es Deine Kraft erlaubt.“

„Ich will es hier sagen. Ich kann nicht mit Dir gehen, denn ich bin gänzlich erschöpft und wenn ich es auch könnte, ich wollte nicht. Ich habe Dir gesagt, mein Bruder wird in der Abtheilung sein. Wird er durch Dich oder Deine Kameraden getödtet – oder verwundet, nur eine goldene Locke auf seinem theuern Haupte verletzt –“

„Lenore, was meinst Du?“

„Höre!“ und sie kniete auf den Felsen nieder, auf welchem sie stand und erhob ihre Hände zum Himmel: „wenn ein Blutstropfen meines Bruders vergossen wird, so schwöre ich –“

„Höre mich schwören!“

„Schwöre nicht! Du wirst handeln, ich weiß es, wie es sich für einen Mann und einen Tyroler schickt; was mich anbetrifft, so habe ich auch meine Pflichten. Ich schwöre, wenn die

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 466. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_466.jpg&oldid=- (Version vom 9.5.2017)