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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

noch nicht abgeschlossen, und der Bestand der Kasse noch nicht nachgezählt; erschien der Domainendirektor jetzt noch mit dem Gelde, das aller Wahrscheinlichkeit nach in der Kasse fehlte, so konnte er es noch offen, vor der ganzen Commission in die Kasse legen, ohne daß man ihn eines Verbrechens zu zeihen vermochte. Es lag nur eine Unordnung vor, die höchstens mit einer Verwarnung, einem Verweise zu rügen war. Nach wenigen Minuten war es zu spät.

Die beiden Kassenbeamten rechneten eifrig; der Präsident und der Kassenrath sahen ihnen ungeduldig zu; ich trat an das Fenster und horchte in den stillen, dunklen Abend hinein, nur nach einem einzigen Peitschenknall, nach dem Schnauben eines Pferdes und dem Schnarren eines Schlittens auf dem Schnee. Es blieb aber Alles still; kein Laut um mich her; draußen nur tiefes, stilles Dunkel; in dem Zimmer nur die still rechnenden und ungeduldig harrenden Beamten, und neben an, zwanzig Schritte weiter, jenseits der dicken Mauer die unglückliche Frau, umgeben von den traurigen Kindergesichtern.

Die Kassenbeamten hatten ihre Arbeit vollendet; der Rendant legte sein Buch dem Controleur, und der Controleur das seinige dem Rendanten zur Durchsicht und Vergleichung vor. Die beiden Bücher stimmten; jeder der Beamten unterschrieb nun den Abschluß des Andern. Der Kassenrath sah die Abschlüsse nach.

„Die Bücher sind in Ordnung,“ sagte er zu dem Präsidenten.

Der Präsident wandte sich wieder an mich.

„Herr Rath, ich ersuche Sie, Einsicht von den Büchern zu nehmen.“

Ich durchsah die Bücher genau, und rechnete lange, aber wahrlich nicht absichtlich, um noch einen letzten Aufenthalt zu gewinnen; meine Aufmerksamkeit war mehr draußen nach der Straße hin, als auf die Bücher gerichtet, gegen meinen Willen. Die Zahlen verschoben sich immer vor meinen Augen.

„Ich bitte, beeilen Sie sich,“ sagte der Präsident.

Ich nahm mich zusammen. Die Bücher waren in Ordnung; die Abschlüsse stimmten; ich gab sie dem Kassenrath zurück.

„Ich finde nichts zu erinnern.“

„So nehmen wir den Kassensturz vor.“

Die Kasse war in einer musterhaften äußerlichen Ordnung, Der Rendant hatte dafür gesorgt. Wie die Bücher sauber gehalten waren und jedes in sich, und alle miteinander stimmten, so waren auch die Geldbestände übersichtlich, in einer fast symmetrischen Ordnung in dem Gewölbe nebeneinander gelagert. Der Rendant holte die einzelnen Packete, Beutel und Rollen hervor und legte sie vor den Visitationscommissarien auf den Tisch. Die Packete enthielten Kassenanweisungen, die Beutel Silbergeld, die Rollen Gold. Auf jedem Stücke war die Summe des Inhaltes verzeichnet. Der Kassenrath zog die Summen nach diesen Bezeichnungen zusammen; ich folgte seiner Berechnung mit banger Erwartung. Die Summe stimmte genau mit dem Betrage, der nach den abgeschlossenen Büchern in der Kasse vorhanden sein mußte; es fehlte kein Pfennig. Den beiden Kassenbeamten sah man es an, wie es ihnen leichter um das Herz wurde. Mir wurde das meinige schwerer. Nur zehntausend Thaler waren aus dem gestrigen Domainenverkaufe zur Kasse gebracht. Zwölftausend Thaler hatten nach der Versicherung des Kassenrathes vereinnahmt werden sollen. War nun jene Versicherung richtig, so konnte diese Uebereinstimmung nur durch falsche Eintragung in die Bücher herbeigeführt sein. Fälschungen oder Unvorsichtigkeiten in den Kassenbüchern oder Belägen zum Zweck der Verdeckung eines Defectes oder Veruntreuung zog nach dem Gesetze eine Verlängerung der durch den Defect verwirkten Zuchthausstrafe, um die Hälfte der Dauer nach sich.

Der Präsident und der Kassenrath wechselten sprechende Blicke.

„Wo befinden sich die Dokumente über den gestrigen Domainenverkauf?“ fragte der Präsident den Rendanten.

Der Beamte zeigte auf eine verschlossene Truhe. „Der Herr Domainendirektor pflegt dergleichen Papiere hier zu bewahren.“

„Der Schlüssel?“

„Der Herr Domainendirektor trägt ihn mit dem Kassenschlüssel bei sich.“

„Schlosser, öffne Er die Truhe.“

Ward dieselbe geöffnet, so war Alles vorbei; ein Vergleich der Verkaufsdokumente mit den Büchern mußte sofort die Fälschung der letzteren und somit zugleich den Defect in der Kasse ergeben; von einem Versehen, von einer bloßen Unordnung konnte dann gar nicht mehr die Rede sein.

Der Schlosser wollte das Oeffnen der Truhe beginnen.

Ich horchte mit der äußersten Anstrengung nach dem Fenster und der Straße; kein Laut ließ sich vernehmen; mich faßte eine furchtbare Angst; sie hätte nicht größer sein können, wenn es sich um mich selbst, um meine eigene Rettung gehandelt hätte. Ich fühlte nur den einen, unwiderstehlichen Trieb zu retten. Wer auf den Criminalbeamten den Stein werfen will, der bedenke, daß ich damals erst achtundzwanzig Jahre zählte und seit kurzer Zeit Criminalbeamter war, und bedenke noch manches Andere, was auch in dem menschlichen Herzen eines Criminalbeamten vorgehen kann, meinetwegen sogar, daß ich auch heute noch so handeln würde; ein allerdings leichtsinniger, gewissenloser Beamter sollte gestürzt werden, aber von Schurken und aus den niederträchtigsten Motiven. Mit ihm sollte eine unschuldige Familie als Opfer fallen.

„Herr Präsident,“ sagte ich, „ich bitte, zunächst die Geldpackete und Rollen öffnen und nachzählen zu lassen.“

„Es wird später geschehen, mein Herr.“

„Nach der Ordnung der Kassenvisitation müßte es jetzt geschehen.“

„Ist eine gesetzliche Nichtigkeit damit verbunden, wenn es später geschieht?“

„Nein,“ antwortete ich.

„Also! Oeffne Er, Schlosser.“

„Wozu diese Gewalt? Ich finde sie nicht motivirt, da doch Kasse und Bücher stimmen.“

„Aber nicht Bücher und Beläge.“

„Wo wäre das ausgesprochen?“

„In den Akten. Nach diesen sind gestern zwölftausend Thaler Kaufgelder eingezahlt, und die Bücher sprechen nur von zehntausend; also fehlen zweitausend Thaler.“

„Nach welchem Stücke der Akten, wenn ich bitten darf?“

„Nach der Anzeige.“

„Nach der Denunciation!“ sagte ich verächtlich.

„Auf Grund dieser Denunciation sind wir hier, mein Herr.“

„Leider!“

Mein „leider“ konnte das Recht des Präsidenten nicht bestreiten. Der Schlosser öffnete die Truhe. In demselben Augenblicke flogen schnaubend Pferde unter dem Fenster vorbei; ein Schlitten rauschte über den Schnee: nach einigen Sekunden hielt er vor dem Hause. Der Präsident und der Kassenrath griffen Beide in die Truhe hinein, rissen Papiere hervor und wühlten darin. Die Hausthür wurde aufgerissen; es stürzte Jemand in das Haus.

„Hier,“ rief der Präsident. Er hielt ein Dokument empor.

„Zwölftausend Thaler sind eingezahlt. Zweitausend fehlen.“

„Zweitausend fehlen,“ wiederholte der Kassenrath, indem er in das Papier sah.

Der Präsident legte mir das Papier hin.

„Ueberzeugen Sie sich, Herr Rath, daß nach diesem Originaldokumente und dem Befunde der Bücher und der Kasse ein Defect von zweitausend Thalern und eine Fälschung der Bücher um diese Summe feststeht!“

Das Dokument war klar. „Ja,“ sagte ich langsam, „wenn die Zählung des Geldes kein anderes Resultat ergibt.

Während der Präsident fragte und ich antwortete, hatte sich die Thür des Zimmers geöffnet; als ich das letzte Wort gesprochen hatte, war sie wieder zugeschlagen. Ich glaubte, den Herrn von Grauburg in der Thür gesehen zu haben; eingetreten war Niemand. Ich stand wie verwirrt und betäubt da. Ein Schuß unmittelbar vor dem Zimmer weckte mich aus meiner Betäubung.

Ich sprang aus dem Zimmer in die Halle. Auf den Steinen lag der Domainendirektor von Grauburg mit zerschmettertem Gehirn. Er hatte durch den Schuß seinem Leben ein Ende gemacht. Er hatte die Erbschaft seiner Frau erhoben, und führte das Geld in Banknoten bei sich; ein Packet mit zweitausend Thalern lag neben ihm. Er war um eine Minute zu spät gekommen.

Ich eilte in das Zimmer Theresens. Sie lag ohnmächtig an der Erde; die Kinder standen weinend ihr zur Seite; neben ihnen lag der umgestürzte Weihnachtsbaum.




Die unglückliche Frau ist todt. Ihre Kinder sind brav geworden. Marie Gamkow wurde von dem Polizeispion befreit, welcher später Geheimerath wurde.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 522. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_522.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)