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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

Aufschlüsse über die Menschenwelt gaben. Diese Dinge sind die geheime Zeichensprache der Natur, und wer sie entziffern kann, mag erst im Stande sein, ohne Nachtheil Gesprochenes und Geschriebenes bei Seite zu schieben.“

„Es ist wahr,“ sagte ein moderner junger Herr, „daß eine bis jetzt noch nicht in ihrem ganzen Zusammenhange gefundene Verwandtschaftskette von Kunst zu Kunst, Wissenschaft zu Wissenschaft, Erscheinung zu Erscheinung läuft, wodurch das Eine zum mysteriösen Dolmetscher des Andern wird. So habe ich Gemälde gesehen, die mich ergriffen wie ein Gedicht. So hab’ ich Musik gehört, die mich an Orte meiner Kindheit, bis dahin vergessen, zurückführten.“

„Baukunst ist gefrorne Musik,“[1] rief die schwarzäugige Dame lebhaft.

„Der Invalide sprang mit freudigem Erstaunen aus seiner Lage in eine sitzende Position auf: „Ein reizendes Bild, in der That!“ rief er, „das ich sehr oft gefühlt, doch bis jetzt noch nicht deutlich fassen konnte. Als ich z. B. den Straßburger Münster besuchte, fühlte ich mich durchaus hingerissen von der Erhabenheit und Grazie seiner Proportionen. Ideen von unendlicher Ordnung und Harmonie sprangen in mir auf und fanden sich verkörpert in dem Verhältniß unzähliger, schön ausgeführter Theile zu einem großen einheitlichen, systematischen Ganzen. Es ging mir eine neue Offenbarung des Einfachen und Ewigen, der Universal-Naturgesetze auf. Es war, als lauscht’ ich einem Psalm oder Choral von Bach oder Palästrina mit allen ihren Harmonieen, auf einmal in erhabener Einheit eine über die andere gebaut, und zugleich als säh’ ich die verkörperte Auflösung eines mathematischen Problems.“

„Ich habe manche sonderbare Beispiele von Verwandtschaft zwischen Tönen und Farben[2] gefühlt und erzählen hören,“ entgegnete die Schwarzäugige. „Ich glaube, ein verdienstliches Werk über die Verwandtschaft der Künste muß erst geschrieben werden.“

„Nicht blos über die Verwandtschaft der Künste,“ fügte der Invalide hinzu, „sondern auch der Künste mit dem Menschen, des Menschen mit der Natur, der Natur mit den Künsten. Ich für meinen Theil sehe nie einen Baum oder einen Berg, ohne eine gewisse Verwandtschaft mit ihm zu fühlen – als ob er Theil und Theilnehmer in eines eigenen Wesens sei. Die Analogien zwischen unserer inneren und der Außenwelt sind seltsam und universal. Und dabei dürfen wir nicht die Verwandtschaft der Naturdinge unter sich vergessen. Die Combinationen auf diesem Gebiete gehen in’s Unendliche, selbst bis in den Humor hinein. Nehmen wir z. B. die Schmarotzerpflanzen: wie viel Phantastisches, Komisches, Vogelartiges finden wir unter ihren charakteristischen Eigenschaften![3] Ihre geflügelten Samenkörner setzen sich wie Vögel auf einen Baum, nisten sich auf ihm ein und zehren von ihm, bis die Pflanze groß gewachsen. Seht den Baum dort am Flusse, wie der Mistelzweig sich der Rinde desselben als Nahrungsquelle bedient und aus ihm herauswächst wie ein Adoptivkind. Sein Saft gibt Vogelleim. Nicht damit zufrieden, sich als ungebetener Gast aufzudringen, incommodirt er den Baum so lange, bis er ihm Holz von seinem Holze gibt, um es nie wieder zurückzugeben, und erfüllt es mit einem Safte, der den ungebundenen Schmarotzerpflanzen der Bäume, den Vögeln ihre Freiheit kostet. Die Moose und Schwämme gehören zu derselben Klasse. Die Linde, unter die ihr mich vorhin legtet, ist voll von – von –“

„Er hielt plötzlich inne und sah überrascht und fragend nach einem Punkte hin, den die ganze Gesellschaft sofort aufsuchte und fand. Der Punkt war aber eine lange Latte, die zwischen den Bäumen und unserem Cirkel stand und mit ganzer Seele gehorcht zu haben schien.

„Wen haben wir hier vor uns?“ fragte der Redner ziemlich stolz und ungehalten.

„Ich mußte lachen, schämte mich aber auch zugleich nicht wenig, denn die Latte war eine Person, Namens Herr Müller, mein Mentor und Hauslehrer, der eine gar zu komische Figur bildete, als er in seiner Verlegenheit nicht wußte, ob er die Hacken oder das Gesicht zeigen sollte.

„Dieser Herr ist ein Freund von mir,“ sagte ich etwas verlegen, „in der That mein Hauslehrer, der hierher kam, um mich verabredeter Maßen hier zu treffen. Ich wollte diesen Vormittag hier Einsamkeit und Shakespeare genießen und den Nachmittag mit ihm verleben. Natürlich dachte ich nicht, die Zeit viel erfreulicher und edler in solcher Gesellschaft zubringen zu können.“

„Sie sind sehr gütig,“ erwiederte er, „doch sind wir Ihnen jedenfalls verpflichtet für Ihre Rettung in unserer Noth um einen Hermann. Vielleicht war es auch für Sie gut, uns zu treffen, andernfalls dürften Sie jetzt wohl sehr hungrig sein. Bitte, laden Sie Ihren Freund gefälligst ein, näher zu kommen und ein Glas Johannisberger zu nehmen.“

„Ich winkte Müller, zu kommen. Er folgte mir zögernd und so ungeschickt und verschämt mit seinem Hute in der Hand, daß ich lauter lachen mußte, als die Uebrigen, welche ihre Lachmuskeln gewaltsam im Zaume hielten. Bei jedem Schritte machte er eine Verbeugung, indem er mit Hals und Kopf zwischen die Schultern hineinfuhr, wie eine neugierige Ente, die nachdenkt, ob sie davonlaufen oder den Gegenstand ihrer Besorgniß noch näher kommen lassen soll, ehe sie sich entscheidet. Nach jedem Schritte und Zusammenklappen des Kopfes zwischen den Schultern schien er zu erschrecken und durch neue Ceremonien und Verbeugungen Abbitte dafür thun zu wollen. Die Wahrheit zu sagen, ich hatte ihn noch nie so ungeschickt und unbeholfen gesehen.

„Bitte, treten Sie näher!“ sagte der invalide Apollo ziemlich ungeduldig. „Wir können Ihnen keinen Stuhl anbieten, auch keinen Tisch, aber wenn Sie den Rasen und ein Glas Wein für nicht zu niedrig halten, sind Sie ganz willkommen.“

„Ich – ich –“ stotterte Müller, noch nervöser und leidenschaftlicher knicksend und duckend, „ich würde d. h. wenn Ihre Durchlaucht –“

„Durchlaucht? Was sollte das heißen? Ich sprang auf und fühlte mich plötzlich eben so verlegen als Herr Müller – Ich sah von Einem zum Andern und wußte gar nichts zu sagen.

„Der Majestätische lächelte und sagte mit mehr Würde, als er bisher gezeigt: „Da nun der Knoten unsers Naturspiels: „Incognito“ so unerwartet gelöst ward, muß ich mich wohl selbst in meiner irdischen Person vorstellen. Ich bin Karl August von Sachsen-Weimar und diese Dame ist die Herzogin Louise. Die gütigen Freunde und Dilettanten um uns sind die Damen und Herren meines Hofes. Wir erheitern uns oft während des Sommers in der Weise wie heute; und da dies in Weimar allgemein bekannt ist, stört uns Niemand in dieser Waldeinsamkeit. Die Bewohner ringsum sind sogar durchweg sehr sorgfältig, unsere Privatvergnügungen hier nicht zu stören. Auf diese Weise wußten wir gleich, daß Sie nur ein Fremder sein konnten. Wir beschlossen, Sie zu unsern scenischen Spielen einzuladen, ohne unser Incognito aufzugeben, das ich für eins der angenehmsten Privilegien eines Fürsten halte.“

„Eure Durchlaucht,“ sagte ich darauf, „wird mir vielleicht noch eine Bitte erlauben, ehe ich mich entferne. Die Unterhaltung, der ich die Ehre hatte, zuzuhören, hat mich mit solcher Freude erfüllt und mir einen so hohen Genuß gewährt, daß ich mir die Freiheit nehme, um eine fernere Ausdehnung Ihrer Güte zu bitten. Diese Dame, deren Anschauungen so geistreich und lebendig, dieser Herr, dessen Ideenreichthum so herrlich und trotz seiner Abneigung gegen dieses Wort – so originell, so tief und mannigfaltig, dessen Ausdrucksweise so malerisch – wer mögen sie sein? Denn ich fühle, daß ich in ihnen keine bloßen Personen des – ja ich sage es gerade heraus – Hofes, keine Alltagsdenker vor mir sehe.“

„Diese Dame,“ entgegnete der Herzog mit einer edeln Verbeugung zu ihr, „ist Madame de Staël. Dieser Herr –“

„Dieser Herr, mein edler Hermann,“ unterbrach der Invalide mit glänzendem Lachen seiner Augen den Herzog, „wird sich erlauben, sich selber vorzustellen.“ Er lehnte sich auf seinen Ellbogen, sah mich heiter an und fuhr fort: „Dieser Herr ist Einer von denen, die Ihnen ohne Zweifel gelegentlich schon unter verschiedenen Namen vorgekommen sein mögen, sonst hätten Sie unmöglich meinen „Hermann“ so ohne Weiteres übernehmen können. Diesen Herrn haben Sie hier und da als lächerlich und abscheulich und wohl auch als lobenswerth nennen hören.

„Mein Name ist Goethe.“

  1. Ein Ausspruch, angeblich zuerst in Jean Paul’s „Vorschule zur Aesthtik“ vorkommend und vielleicht von dieser grünen Wiese her nur zuerst in ein Gewand von Druckerschwärze gekleidet.
  2. Wer denkt hier an Bettina’s Schilderung schöner, brauner Augen, „sie blickten wie die Töne eines Violoncello?“
  3. Der Orchideen-Kultus neuerer Zeit hat also wohl seine Quelle in deren humoristischem, phantastischem Wesen.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 544. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_544.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)