Seite:Die Gartenlaube (1856) 578.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

Beide standen auf.

„Es ist Zeit, daß wir uns trennen!“ fuhr Henriette leise, aber eifrig fort. „Man beobachtet mich mit argwöhnischen Blicken. Da ich Ihnen vertraue, bitte ich Sie um den letzten wichtigen Dienst.“

„Zählen Sie auf mich, Madame, ich schwöre Ihnen, Ihre Aufträge gewissenhaft zu vollziehen.“

Henriette gab ihr den Brief, den sie kurz zuvor geschrieben hatte.

„Hören Sie mich an,“ sagte sie leise und mit zitternder Stimme. „Dieser Brief ist an meinen Vater gerichtet; ich spreche darin von Dingen, die morgen oder übermorgen in Erfüllung gehen werden, wie ich allen Grund zu vermuthen habe. Sind sie in Erfüllung gegangen, so werde ich behindert sein, meinem Vater Nachricht davon zu geben, und doch muß er sie wissen.

Habe ich bis übermorgen den Brief von Ihnen nicht zurückgefordert, so lassen Sie ihn durch die Post abgehen. Und nun leben Sie wohl, meine liebe Freundin – wir haben uns heute das letzte Mal gesehen. Denken Sie meiner, wie einer geschiedenen Freundin.“

„Ich werde Sie segnen, und für Sie beten!“ stammelte Melanie, die vor ihr niedersinken wollte.

Henriette verhinderte sie daran.

„Mein liebes Kind,“ flüsterte sie noch einmal in einem mahnenden Tone, „bleiben Sie stets dem Manne ihrer ersten Liebe getreu – eine Untreue bereuet man zu spät, wenn das Herz seine Rechte fordert.“

In dem Augenblicke, als sie die Thür öffnete, erschien Otto.

„Besorgen Sie meine Aufträge pünktlich!“ sagte Henriette kalt und gefaßt. „Vergessen Sie nicht, daß ich keine Kosten scheue!“

Melanie verneigte sich, und verließ eilig das Zimmer.

„Wer ist jenes junge Mädchen?“ fragte der Kommerzienrath.

„Meine Putzmacherin.“

„Gut, Henriette, das habe ich gern! Denken Sie an die Freuden des Lebens, an Ihren Stand und an meinen Reichthum.

Der Fürst tritt übermorgen seine Reise an – wir werden morgen Abend das Fest geben.“

„Morgen Abend?“

„Ich bewillige Ihnen zweitausend Francs zur Vervollständigung Ihrer Toilette.“

„Sie wird vollständig sein!“ antwortete die bleiche Gattin mit Bestimmtheit.

„Wie ich es wünsche?“ fragte Otto, sie scharf ansehend.

„Wie es meine Ehre erfordert?“

„Sie werden mit mir zufrieden sein.“

Otto küßte die Stirn seiner Frau. Henriette zitterte bei diesem Kusse.

„Man muß sie überwachen!“ dachte der mißtrauische Kommerzienrath, indem er sich dem Anscheine nach beruhigt entfernte, um die Befehle zu den Vorbereitungen des Festes zu geben.

Henriette blieb den ganzen Tag in ihrem Zimmer. Außer Lisa hatte keine Person Zutritt zu ihr. Der Kommerzienrath fuhr noch einmal nach der Stadt. Als er Abends zurückkehrte, ließ er die Kammerfrau kommen.

„Wie benimmt sich meine Frau?“ fragte er.

„Sie spricht zwar wenig, aber sie ist ruhiger geworden, Herr Kommerzienrath.“

„Womit beschäftigt sie sich?“

„Mit Lesen. Außerdem hat sie mir Auftrag gegeben, eine rothe Camelie zu besorgen, die Sie morgen Abend als Haarputz tragen will.“

„Ueberwache die Toilettengegenstände, die die Putzmacherin bringt, Lisa! Sorge dafür, daß Deine Herrin glänzend und in heitern Farben erscheine. Die wunderliche Grille meiner Frau wird vorübergehen, und Du kannst Dich meiner Dankbarkeit versichert halten. Nimm als Abschlagszahlung diese Goldstücke.“

Lisa wartete vergebens auf die Putzmacherin; Melanie erschien nicht wieder.



XII.


Der Kommerzienrath hatte einen kleinen, aber ausgewählten Zirkel in seinem Landhause versammelt, dessen Mittelpunkt der russische Fürst war: Die Gesellschaft bestand aus acht Herren und sechs Damen. Alle waren reiche Leute, die den Sommer an den herrlichen Gestaden des Genfer See’s verbrachten, und zum Winter in ihre Städte zurückkehrten. Die Gesellschaft befand sich in dem großen Saale des Erdgeschosses, dessen Glasthüren, die zu einer Terrasse führten, geöffnet waren. Otto hatte die letzten Gäste empfangen, aber immer noch fehlte Henriette; er bereuete, das Fest veranstaltet zu haben, denn es drängte sich ihm die Befürchtung auf, daß sein Vertrauen auf die Fügsamkeit seiner Frau zu groß sei. Die Abreise des Fürsten, mit dem er in Bankgeschäften stand, hatte ihm einen passenden Vorwand zu der Strafe gegeben, die er Henrietten zugedacht. Otto war ein energischer, harter Charakter, der nichts begann, ohne ein Resultat zu erlangen. Henriette selbst sollte diesen Abend über ihr Schicksal entscheiden. Und sie entschied darüber.

Otto befand sich in einer sehr gereizten Stimmung, die dadurch um so peinlicher ward, daß er sie den Gästen gegenüber verbergen und den feinen, taktvollen Wirth spielen mußte.

Die Damen verlangten nach der Frau vom Hause.

„Man meldete mir so eben,“ antwortete entschuldigend der Wirth, „daß meine arme Frau durch ein plötzliches Unwohlsein an der Vollendung ihrer Toilette behindert gewesen sei. Das Unwohlsein ist vorüber und sie wird nicht lange auf sich warten lassen.“

„Eine Dame von Welt muß die Toilette sehr ernst nehmen!“ sagte Frau von Luceval, eine Pariserin. „Madame Winter besitzt einen bewunderungswürdigen Geschmack, und ich verzeihe ihr gern die Verzögerung, da sie in untadelhafter Toilette erscheinen wird. Zürnen Sie ihr deshalb nicht,“ fügte sie bittend hinzu, als sie sah, wie der Kommerzienrath seine Lippen zusammenbiß. „Madame Winter weiß, daß sie, bezüglich der Toilette, vor strengen Kritikern zu erscheinen hat!“

Die Pariser Dame nahm sich Henriettens auf eine Weise, an, welche die Gereiztheit Otto’s erhöhete; er begriff, daß er durch die Entschuldigung die allgemeine Aufmerksamkeit auf den Punkt gelenkt hatte, der ihm die größte Sorge machte und unter den kritischen Verhältnissen hätte unberührt bleiben müssen. Henriette’s verzögerten Erscheinen ließ auf eine Demonstration schließen, und er hätte sich gern entfernt, um zu untersuchen, ob seine Befürchtungen gegründet seien; es war unmöglich, der Anstand fesselte ihn an die Gesellschaft. Er verwünschte das gewagte Spiel mit der überspannten Närrin, und seine Ungeschicklichkeit dazu. Es kostete ihm Mühe, sich zu beherrschen.

In diesem Augenblicke öffnete ein Diener die Flügelthür, und Henriette erschien. Otto erbleichte, er war keines Wortes mächtig – seine Frau trug ein prachtvolles Trauerkleid. Sie war bleich wie der Tod, und ein unheimliches Feuer sprühete aus ihren Augen. Hals, Schultern und Arme waren marmorweiß, es schien, als ob alles Leben, alles Blut daraus gewichen sei.

Henriette bot einen Anblick, der die Gäste in sprachloses Erstaunen versetzte.

„Sie ist wirklich krank!“ flüsterten die Damen nach einer Pause, in der sich die trauernde Frau grüßend nach allen Seiten verneigt hatte.

„Ja sie ist krank!“ rief Otto, vor Wuth seiner Sinne kaum noch mächtig.

Dann sprang er auf, reichte ihr den Arm, und wollte sie aus dem Saale führen. Henriette machte schwankend einige Schritte, dann brach sie ohnmächtig zusammen. Man brachte die leblose Frau auf ihr Zimmer. Die Gäste drückten ihr Bedauern aus, verabschiedeten sich, und verließen das Landhaus, in dem für dieses Mal kein Vergnügen mehr zu erwarten stand.

Otto hatte nach der Stadt zu einem Arzte geschickt. In einer unbeschreiblichen Verfassung ging er in dem Zimmer auf und ab, von Zeit zu Zeit einen Blick nach dem Bette werfend, auf dem Henriette in ihrem Trauerkleide lag. Sie athmete nicht, ihre Augen waren geschlossen. Die Kammerfrau lag auf den Knien und betete.

„Wie ist meine Frau zu dem Trauerkleide gekommen?“ fragte er hastig.

„Ich weiß es nicht, Herr!“

„Du hast meine Befehle nicht beachtet!“

„Ich schwöre zu Gott, daß kein Mensch bei Madame gewesen ist!“ rief die weinende Lisa.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 578. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_578.jpg&oldid=- (Version vom 5.3.2017)