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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

Gletscher nahe dem rechten Ufer liegen auf dem Aarboden drei „Rollen,“ ein Wort welches nach K. Vogt’s gegen mich ausgesprochener Meinung aus Knollen entstanden ist. Es sind dies freistehende Felsen, von denen der eine mehrere hundert Fuß hoch war und in Norddeutschland ein Berg genannt werden würde. Sir sind in der Richtung der Gletscherbewegung (daß sich jeder Gletscher vorwärts bewegt, habe ich schon früher gesagt) länglich abgerundete, im großen Ganzen halbkuglige oder halbeiförmige, Felsen, welche überall geglättet und abgeschliffen sind. Diese Abrundung und Abschleifung ist das Werk des Gletschereises, welches, wie der Edelsteinschleifer des Smirgels, sich des Schuttes und Sandes bedient. In früheren Zeiten ging der Gletscher über diese Rollen hinweg. Diese drei Rollen, denen theils an der linken, theils an der rechten Seite der ehemaligen Gletscherbahn vor dem Hospiz viele andere folgten, werden an Größe weit überboten von der „Grimsel-“ oder „Spittelnolle.“ So heißt der große kuppelförmige Berg, an dessen Fuß das Hospiz liegt; er ist von anderen Bergen kesselförmig umgeben, und ebenfalls bis auf seinen Gipfel vom Eise abgeschliffen und aller Ecken und Kanten beraubt. Doch ich sollte am andern Morgen vor meinem Hinabsteigen in das reizende Haslithal diese „Eis- oder Gletscherschliffe“ an noch viel höher gelegenen Punkten sehen. Mit äußerster Ausnutzung der Zeit unternahm ich mit fünf anderen Reisenden am Morgen des 9. Sept. von 7 bis 11 Uhr früh noch eine Besteigung des Sidelhornes, welches sich dicht neben der Grimsel bis auf 8525 Fuß erhebt. Es besteht aus einem schönen meist röthlich gefärbten Granit und nach dem Gipfel hin aus einem schwarzgrauen, leicht verwitternden Glimmerschiefer. So weit der Granit reichte und bis höchstens 800 Fuß unter dem Gipfel, den wir des immer dichter werdenden Nebels wegen unerstiegen ließen, fand ich an vielen Stellen den vollkommensten Eisschliff, d. h. große abschüssige Felsflächen, welche vollkommen glatt geschliffen und stellenweise glatt polirt waren. Also bis zu dieser bedeutenden Höhe hat einst die Gletscherbildung ihre glättende Thätigkeit erstreckt! Man wundert sich Anfangs darüber, daß im Verlauf der Jahrtausende diese Flächen, die in der Sonne wie Spiegel glänzten, durch die Verwitterung nicht angefressen oder rauh geworden sind. Allein sie liegen ja den größten Theil des Jahres unter Schnee begraben, und ihre Glätte erlaubt in der übrigen Zeit des Jahres dem Wasser nicht, lange darauf zu haften. Es fließt schnell davon ab, und die Luft trocknet sie schnell wieder.

Nach 12 Uhr hatten wir das Hospiz nicht nur wieder erreicht, sondern auch in der Schnelligkeit nun erst das Frühstück eingenommen, um dann in rüstigem Schritt mit der stürzenden Aar um die Wette thalabwärts zu steigen. Das aufmerksame Auge erkannte unter dem sich bald unterhalb der Grimsel einstellenden Knieholze hier und da mächtige Rollen und an den ungeheuren Granitwänden, die als breite Koulissen in das Aarthal vorspringen, zeigten sich oft die ausgedehntesten Eisschliffe. Bald war der Rätterichs-Boden erreicht, wo die Aar, die jetzt rechts von ihm im tiefen Felsenbette schäumt, einen kleinen See zurückgelassen hat, wie sich ein solcher größerer auch oben neben der Grimselnolle findet. Hölzerne und steinerne Brücken führten uns mehrmals von einem Ufer der Aar auf das andere und immer noch zeigte sich die Aar als „Gletscherbach,“ der sie ja ist, trüb und milchig von dem außerordentlich feinen schlammartigen Sand, den sie mit sich führt. Dieser ist natürlich das Erzeugniß der reibenden Gewalt unter der ungeheuren Eislast des Gletschers. Herr Dollfus theilte mir mit, daß seinen genauen Berechnungen nach die Aar bei großem Wasser, d. h. bei starkem Abschmelzen des Gletschers, in 24 Stunden 5600 Ctr. Schlamm fortführt, was also weit über 200 Pferdelasten zu 25 Ctr. auskragt. Doch ich darf mich nicht so weit von meinem Thema entfernen und ich komme daher zu der „hellen Platte.“ Dies ist eine vielleicht 25,000 Geviertfuß große sanft geneigte Felsenfläche, welche sich als der unverkennbarste Eisschliff zu erkennen gibt. Nicht nur daß sie vollkommen aller und jeder Ecken und Kanten, die jede andere eben so große Felsenwand haben würde, beraubt ist, sondern sie ist auch in der Richtung des Thales, in der sich hier einstmals der Gletscher abwärts bewegt hat, mit dichter oder weitläufiger stehenden Furchen bedeckt, die Spuren der zuletzt darauf hingeschleiften, unter der Wucht des Eises eingeklemmten oder im Eise eingefrornen Steine. Für von dem darüber fließenden Wasser ausgewaschene Rinnen kann man diese Furchen deswegen durchaus nicht halten, weil sie gerade rechtwinkelig auf die Richtung stehen, welche Wasserrinnen haben müßten. „Agassiz’ Eisschliff 1842,“ in den Stein der hellen Platte eingegraben, bezeichnet sie als ein Eigenthum der Wissenschaft. Auch der Achtloseste kann die helle Platte nicht ansehen, ohne nach der Entstehung dieser wie von Menschenhand abgemeiselten und polirten Felsenwand zu fragen. Die eingemeiselte Inschrift sagt es ihm und er versteht diese, wenn er von dem geheimnißvollen Walten der Gletscherbildung wenigstens einige Kunde hat.

Auf der Tschingelbrücke machte ich meine Begleiter auf einen sogenannten „Riesentopf“ aufmerksam. Die Aar stürzt mit betäubendem Getöse durch den hohen Bogen der Brücke, eingeengt von beiden Seiten und in ihrem Bett durch ungeheure Blöcke eines schönen fast weißen Graniten. Einer dieser Blöcke, mit dem rechten Ufer gerade unter der Brücke an der Seite noch zusammenhängend, gleicht einem ungeheuern Topfe von etwa sechs Fuß Durchmesser. Solche Riesentöpfe entstehen durch die Gewalt des Wassers, welches im Wirbel Steine darauf herumdreht und sie so nach und nach aushöhlt, wobei die Steine als Bohrer dienen. Dem fertigen Riesentopf gegenüber steht ein kleinerer, der noch in der Arbeit ist. Die jetzt kleine Aar stand tief unter der nur erst etwa eine Elle tief ausgehöhlten Oberfläche, in welcher der reibende Stein auch noch lag. Ein wenig oberhalb der Brücke war das etwas breitere Aarbett, in welchem sie unbändig schäumte und tos’te, mit großen Granitblöcken erfüllt, an welchen die unablässig leckende Zunge des Wassers dergestalt gewirkt hatte, daß sie runde muschelförmige Flächen zeigten und schmelzenden Eisklumpen glichen, wozu auch die weiße Farbe nicht wenig beitrug.

Wir kamen zur Handeck, einem von wenigen Sennhütten gebildeten Weiler. Hier stürzt die Aar Arm in Arm mit dem von links herkommenden wasserreichen Aerlenbache 200 Fuß tief in eine enge von senkrechten Felsenwänden gebildete Schlucht, deren Boden von den dichten Wasserstaub-Wolken des zerpeitschten Wassers dem schwindelnden Blicke völlig verhüllt ist. Ueber dem Tosen des fürchterlichen Kessels schwebte friedlich der brillanteste Regenbogen, den ich je gesehen, in dem hochaufsteigenden Wasserstaube, Wir waren hier bis auf die Höhe von 4373 Fuß abwärts gekommen. Bald ändert sich mit der Gebirgsart der Charakter der Landschaft. Der Granit wich unter Gutanen dem Gneiß und mit diesem, dessen Schichten stark geneigt und oft fast auf den Köpfen standen, wurden die Felsformen wilder und zackiger. Je weiter wir abwärts kamen, desto mehr erkannte man eine allmälige Klärung des Wassers der Aar, obgleich es noch weit davon entfernt war, die lufthelle Klarheit eines Gebirgsbaches anzunehmen, deren doch unzählige von rechts und links her bemüht waren, den Gletscherursprung der Aar durch ihre eigene Klarheit zu verwischen. Klar wird sie erst bei Thun, nachdem sie in den beiden großen Abklärungsbecken des Brienzer- und Thunersees all’ ihren Gletscherunrath abgesetzt hat, in der bis 2000 Fuß betragenden Tiefe dieser herrlichen Landseen. Ob es gleich nicht eigentlich zu dem Thema meines Briefes gehört, so muß ich doch als einer der Gletscherwirkung ebenbürtigen Erscheinung der ungeheuren Schutthalden gedenken, welche von den Lauinen von rechts und von links her in das enge felsige Aarthal hinabgeführt waren. Dies geschieht in dieser Ausdehnung nur im Frühjahr und Vorsommer und dennoch fand ich an einer Stelle den Lauinenschnee noch nicht ganz weggeschmolzen, sondern einen gewölbten Brückenbogen über die Aar hinweg bildend. Diese Lauinenbahnen sind meist tiefe Felsenschlüchte, ob denen oft der Fuß eines Gletschers oder wenigstens eines mächtigen Schneefeldes herabdroht. Was auf dieser Bahn liegt und nicht niet- und nagelfest ist, muß mit fort, und wären es haushohe Blöcke.

Die Spuren des Gletscherschliffes verließen uns auch unterhalb Gutanen im Gneißgebiete nicht, ja selbst noch tiefer unten fehlten sie nicht, wo mächtige Bänke eines schönen schwarzen weißgeaderten Marmors (der Juraformation angehörend) sich über den Gneiß gelagert finden und zuletzt allein die hohen Felswände bilden; obgleich wegen der größeren Verwitterbarkeit des Kalksteines die Schliffflächen weniger gut erhalten sind.

Von sechsstündigem Herabsteigen auf dem oft äußerst holperigen Saumpfade tüchtig zusammengestaucht kamen wir im Hasliboden, dem unteren Ende des Oberhaslithales an und man erkennt in ihm leicht einen ehemaligen Gletscherboden. Anfänglich

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 585. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_585.jpg&oldid=- (Version vom 21.11.2020)