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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

„Da muß ja eine alte Bulle platzen! Unteroffizier Sommer, ein gedienter Mann – Feldzug mitgemacht und solche Extravaganzen mit dem Freiwilligen hier, der Sonntags mit der goldenen Kette herumläuft und mich nicht sieht, wenn ich die Straße herunterkomme. Na, wart! Euch will ich kriegen! Soll schon Ordnung kommen in’s Bataillon! Lieutenant H., merken Sie sich beide Namen und erinnern Sie mich morgen, daß ich dem Oberst Meldung mache. Verfluchte Geschichte das! Was thaten denn eigentlich die beiden Vögel hier?“

„Wir gingen spazieren, Herr Oberstwachtmeister.“

„Spazieren! Auf allen Vieren mit Lederzeug und Tschako, als Kommandirte einer Feldwache? Donnerwetter, das ist ja ein verfluchtes Spazierengehen! Liegen im Graben, so lang sie sind; besehen sich Mond und Sterne und gehen spazieren? Das ist ja eine ganz neue Erfindung! Wart, ich will Euch ’s Spazierengehen vertreiben! Morgen Meldung, übermorgen Standrecht, Abends in’s Loch bei Wasser und Brot, da könnt Ihr Mond und Sterne begucken, so viel Ihr wollt und auch spazieren gehen! Rechts um!“ commandirte er streng. Unteroffizier Sommer hängt sogleich ab und meldet sich beim Lieutenant seiner Feldwache als Arrestant. Ich will ein Exempel statuiren! Der Freiwillige ist ebenfalls Arrestant und wird bis auf Weiteres in’s Spritzenhaus des Dorfes gesteckt. Unteroffizier Sommer wird das gehörig dem wachthabenden Offizier melden. Vorwärts! Marsch!“

Als ob wir Parademarsch üben wollten, so steif und gestreckt gingen wir ab. Keiner sprach ein Wort, so lange die Stimme des Alten auf der Hippel noch zu hören war, so tiefen Eindruck hatte die unangenehme Ueberraschung auf uns gemacht. Ich hatte alle Ursache die Vorwürfe von Seiten Sommers zu fürchten und wollte natürlich nicht beginnen.

„Verfluchtes Geniese,“ platzte endlich Sommer heraus. „Bringt uns um die ganzen Manöverfreuden! Schöne Aussicht das, am Tage ’zu marschiren und Abends und an allen Ruhetagen bei Wasser und Brot im Spritzenhaus zu campiren! Wünsche viel Vergnügen! Muß auch der Gott sei bei uns gerade den Alten auf der Hippel herbeiführen, wo wir nur noch wenige Schritte bis zur Kette hatten! Wird das ein Lärmen werden, wenn’s morgen heißt: der alte Sommer hat Arrest! Da wollt’ ich doch, daß ein …“

Ein schwerer Fluch fuhr unter dem Hängebart des Alten heraus. Ich suchte ihn zu besänftigen und mit der Hoffnung zu trösten, daß der Major morgen seine Befehle schon vergessen und die ganze Sache von unserem Hauptmanne, der ihm und mir wohl wollte, vertuscht werden würde, er hörte aber nicht und räsonnirte und fluchte, bis wir an die Feldwache kamen. Kerzengerade wie eine Gliederpuppe ging er auf den Lieutenant los, salutirte und sagte: „Herr Lieutenant, ich melde mich als Arrestant.“

Der Angeredete fuhr erschrocken auf. „Unteroffizier Sommer, was soll das heißen?“

„Zu Befehl, Herr Lieutenant, ich sagte die Wahrheit. Der Herr Oberstwachtmeister haben beordert, daß ich abhängen und als Arrestant auf der Feldwache bleiben soll. Der Freiwillige K. ist ebenfalls Arrestant und wird bis auf Weiteres in’s Spritzenhaus gebracht. So lautet meine Ordre.“

„Gut, gut,“ sagte der Lieutenant ängstlich. „Gefreiter Wagner, bringen Sie den Arrestanten sogleich dorthin und melden Sie dem schließenden Unteroffizier: ein Mann Arrestant von der fünften Kompagnie. Mein Gott, was ist denn vorgefallen?“ wandte er sich an Sommer, der sich seines Lederzeuges schon entledigte.

Ich konnte nicht hören, was Sommer antwortete, da der Gefreite Wagner bereits sein Gewehr zur Hand genommen und mich zum Abmarsch mahnte. Ich drückte dem alten Sommer verstohlen die Hand und ging. Im Spritzenhause angekommen, fand ich mehrere Leidensgefährten aus allen Gattungen des Armeecorps, Musketiere, Husaren, Kürassiere und Kanoniere. Eine notdürftige Streue, die kaum den Boden bedeckte, stellte unser Nachtlager vor, das indeß immer noch angenehmer war, als die kalte Beiwacht, wo man fror und bei dem besten Willen nicht schlafen konnte. Die Anstrengungen des Tages, das natürliche Bedürfniß des Schlafes, die wohlthätige Wärme, die meine Glieder erweichte, wiegten mich trotz der harten Unterlage und dem kolossalen Schnarchen meiner Nachbarn bald in einen süßen Schlummer, der mich den Alten auf der Hippel, Manöver und Arrest vergessen ließ. Ich schlief als ob ich drei Wochen kein Bett gesehen.

Es mochte ungefähr vier Uhr Morgens sein, als sich die Thüre öffnete und eine Stimme rief: „Freiwilliger K. von der fünften Kompagnie, X. Infanterieregiments?“

„Hier!“ schrie ich und taumelte vom Lager auf.

„Aus dem Arrest entlassen,“ referirte der schließende Unteroffizier. „Sollen sogleich abmarschiren mit dem Gefreiten.“

Ich war wie aus den Wolken gefallen, rieb mir die Augen und wußte nicht, ob ich gehen oder bleiben sollte.

„Machen’s geschwind,“ mahnte plötzlich derselbe Gefreite, der mich gestern hierher transportirt und jetzt seinen Kopf zum Thore hereinsteckte: „machen’s geschwind, der Herr Hauptmann und Unteroffizier Sommer erwarten Sie bereits. Die Kompagnie versammelt sich.“

Im Trabe eilten wir dem Sammelplatze der Kompagnie zu. Auf halbem Wege kam mir schon der Unteroffizier Sommer entgegen, übergab mir mein Gewehr, das spiegelblank geputzt war, reinigte mein Lederzeug mit Schachtelhalm von Schmutz und Schmarren und machte das fidelste Gesicht von der Welt.

„Aber Sommer,“ frug ich erstaunt, „sagt mir um Gotteswillen …“

„Still, Freundchen – später, später! 's wird Alles gut! Nur Courage, der Alte auf der Hippel fährt ab! Der wird sich ärgern! Keine Angst, treten’s halt ohne Furcht in die Kompagnie ein, der Hauptmann erläßt Ihnen die Abmeldung aus dem Arrest! ’S war eine verfluchte Geschichte das – aber Glück – Glück muß der Soldat haben, sonst hört Alles auf! Geben’s Acht, ’s passirt heute was, halten Sie sich straff, Kopf hoch, Brust heraus – nur Courage!“

Wir waren kaum auf dem Appellplatz angekommen und in die Kompagnie eingetreten, als auch schon die drei andern Kompagnien anrückten und das Bataillon nach der Ebene abmarschirte, wo das ganze Regiment vereint heute exerciren sollte. Der Alte auf der Hippel ritt zu weit vom Bataillon ab, um mich oder Sommer zu erkennen, der Hauptmann that nicht, als ob er um die Sache wüßte, und so kamen wir unangefochten auf dem Sammelplatze an, wo sogleich Regimentsfront formirt wurde. Der Morgen war prachtvoll und ich, trotz meines leeren Magens, in der fröhlichsten Stimmung.

Nicht lange, so sahen wir am Flügel des ersten Bataillons mehrere Reiter mit Federhüten, bei deren Annäherung sogleich: „Stillstand – Gewehr auf!“ kommandirt ward. Es war unser Brigadegeneral nebst Suite, ein allgemein beliebter und von den Soldaten fast vergötterter Mann. Streng im Dienst, ein tüchtiger Soldat, litt er durchaus keine Unordnung in der Brigade, sie mochte noch so gering sein, war aber auf der andern Seite wieder mild und leicht versöhnt, und vorzüglich ein Freund des gemeinen Mannes, den er bei allen Gelegenheiten gegen die Anmaßungen der Offiziere in Schutz nahm. Man erzählte sich viele Beispiele im Regiment, wo seine Fürsprache allein die Strafbaren von langem Arrest gerettet hatte.

Als der General in unsere Nähe kam, räusperte sich der Alte auf der Hippel, hob sich in den Bügeln und „Aa–ach–tung! – präsentirt’s Gewehr!“ schallte es die Fronte herab. Der General ritt einige Schritte, besah sich die Stellung des Bataillons und winkte: „Achtung: Gewehr auf Schulter!“ Der General winkte noch einmal. – „Gewehr ab! Rührt Euch!“ näselte der Alte und ritt mit gesenktem Degen zum General.

„Unteroffizier Sommer und Freiwilliger K. von der fünften Kompagnie!“ rief es plötzlich vor der Front des Bataillons.

Als ob mich ein Blitz getroffen, so fuhr ich zusammen. Die Feldwache, die Grabengeschichte, der Alte auf der Hippel, der Arrest, Alles fiel mir wieder ein und trieb mir das Blut in die Wangen. Ich fürchtete nicht ohne Grund vom General vor dem ganzen Regiment ausgescholten zu werden, und sah schon die höhnischen Gesichter meiner Kameraden, die dem Freiwilligen, der so manchen Vorzug genoß, von Herzen diese Strafe gönnten.

„Muth – Donnerwetter, Muth,“ flüsterte mir Sommer zu, der steif, wie ein Nürnberger Holzgrenadier mit aufgenommenem Gewehr an mir vorüberstrich; „machen ja ein Gesicht als ob’s zum Schaffot ginge. Pfui Teufel, schämen Sie sich!“

Ich schämte mich wirklich, nahm mein Gewehr auf und keck mit echt soldatischem Anstand marschirte ich vor der Fronte, meinem Freunde Sommer nach, an die Stelle, wo der General und alle Offiziere versammelt hielten.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 592. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_592.jpg&oldid=- (Version vom 21.8.2021)