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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

Herrn Müller’s Sylvesterabend.
Zweites Kapitel.
(Schluss.)

Etwa eine Stunde vor Eintritt der Abenddämmerung am folgenden Tage machte Herr Müller sich auf den Weg, um sich des übernommenen, ihm so widerstrebenden Auftrages zu entledigen.

„Die Leute werden denken, ich sei verrückt geworden,“ murmelte er vor sich hin. „Ich wollte, ich hätte den jungen Gecken mit seiner Zumuthung zurückgewiesen. Ich weiß in der That gar nicht, wie man’s macht, wenn man Jemandem etwas schenkt, denn ich habe es in meinem Leben noch nicht versucht, und werde mich bei der ganzen Geschichte ungeheuer lächerlich machen. Nun und nimmermehr kann ich zugeben, daß es nützlich oder angemessen sei, Geld wegzugeben – ich bin aus Grundsatz dagegen und gleichwohl nun genöthigt, das Werkzeug dieses jungen Verschwenders zu sein. Magister Zinkelmann hatte ganz recht, als er sagte, ich hätte niemals das Vergnügen des Gebens gekannt. Ich gäbe gleich selbst zehn Spezies darum, wenn ich diese verwünschte Kommission los wäre. Der erste Bettler, der mir begegnet, bekommt seinen Speziesthaler, und so frisch weg darauf los, bis die ganze Summe glücklich zum Fenster hinausgeworfen ist.“

Herr Müller zog seinen Hut tiefer in’s Gesicht, um sich vor dem Schnee zu schützen, den der Wind ihm in’s Gesicht peitschte, und ging immer so vor sich hinbrummend weiter, bis er, als er eben um eine Ecke bog, an Jemanden anrannte.

„Heda!“ schrie er. „Seid Ihr es, Schirmer-Marie? Wartet einmal! Hört Ihr nicht?“

Die Frau aber erkannte seine Stimme, und fürchtete sich vor ihm viel zu sehr, als daß sie sich hätte versucht fühlen sollen, stehen zu bleiben.

„Ihr sollt warten, sage ich!“ schrie Herr Müller, indem er ihr nachlief. „Ich will Euch nichts thun! Seid doch nicht so einfältig!“

Das Weib blieb nun stehen, und hielt mit dem halb nackten blauen Arm den alten zerfetzten Mantel zusammen, den ihr der Wind fast zu entreißen drohte.

„“Hier,“ sagte Herr Müller; „Ihr habt gestohlen, ich weiß es, aber ehrliche Leute sind heut zu Tage einmal rar. Hier habt Ihr einen Speziesthaler; kauft Euch dafür Holz, damit Ihr keins wieder zu mausen braucht.“

„Wenn der Narr einmal sein Geld verschleudert haben will, so wollen wir das schon besorgen!“ murmelte Herr Müller, indem er weiter eilte, während das Weib mit dem Speziesthaler in der Hand stehen blieb, und ihrem unverhofften Wohlthäter mit sprachlosem Erstaunen nachsah.

Herr Müller ging die Reichsstraße hinunter, quer über den Brühl, durch das Halle’sche Gäßchen und dann auf die jetzt schon längst verschwundene, damals zu den Festungswerken gehörige sogenannte Hallische Bastei.

Hier waren in der Regel eine Menge schreiender, tobender, zerlumpter junger Proletarier versammelt, welche die Lust, die ihnen in ihren ärmlichen Wohnungen versagt war, durch lautes Umhertummeln und Balgen sich zu verschaffen suchten.

„Na, Ihr verworfene Brut,“ rief Herr Müller, „welcher von Euch ist denn der Aermste? Ich will ihm einen Speziesthaler geben.“

„Ich – ich – ich!“ schrieen die zerlumpten Buben wild durcheinander. „Mein Vater ist schon seit drei Monaten krank,“ rief der Eine.

„Meine Mutter ist vor acht Tagen bei dem Glatteis gefallen und hat das Bein gebrochen!“ schrie ein Zweiter.

„Wir sind neun lebendige Geschwister und haben schon seit drei Tagen keinen Bissen Brot im Hause!“ brüllte ein Dritter, und so suchte Jeder seine Verhältnisse mit möglichst schwarzen Farben zu malen.

„Lügen, nichts als Lügen!“ donnerte Herr Müller. „Ich wollte darauf wetten, wenn man zu Euch in’s Haus käme, so fände man Euren Vater, Eure Mutter und die sämmtlichen neun Geschwister wohlgemuth um die Schnapsbulle herumsitzen. Aber das geht mich weiter nichts an. Ein reicher Narr hat mir einmal aufgetragen, Euch einen Speziesthaler, zu schenken, und da ich nicht weiß, wer ihn von Euch am meisten verdient, so werde ich ihn auswerfen; wer ihn erwischt, dem ist er. Also aufgepaßt – eins, zwei, drei!“

Die Buben stürzten im wilden Durcheinander hinter dem blanken, über den Schnee hinkollernden Thalerstück her, und es entspann sich eine so wüthende Rauferei, daß Herr Müller wider Willen laut lachend in die Tasche griff und Frieden stiftete, indem er jedem der Kämpfer einen Speziesthaler verabreichte.

Dieser Auftritt hatte den alten Menschenfeind förmlich heiter gestimmt, und obschon er nicht umhin konnte, zu bedenken, daß er der Mahnung des jungen Herrn von Schönberg, diese Wohlthaten nur den Würdigsten zu spenden, bis jetzt eben nicht sehr eingedenk gewesen, so verweilte er doch nicht ohne innere Befriedigung bei dem Gedanken, welcher Jubel in den Hütten dieser Armen ausbrechen würde, wenn die Buben mit den großen Geldstücken nach Hause kämen!

Als er so bei sich denkend wieder den Brühl hinauf nach der Georgenpforte zu ging, um sich hinaus in die Vorstadt zu begeben,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 701. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_701.jpg&oldid=- (Version vom 21.3.2017)