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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

„Endlich –“

„Es ist der gewöhnliche Briefbote.“

„Irrst Du Dich nicht?“ fragte die Generalin. „Der Briefbote kommt vor neun Uhr nicht; nur dann kommt er früher, wenn zufällig die Fahrpost ganz ausgeblieben ist, und er mithin auf das Ausgeben ihrer Briefe nicht zu warten braucht.“

„Ich erkenne ihn genau,“ versetzte die Nichte. „Er trennt sich so eben jetzt von Hermann, und schlägt den Weg nach dem Dorfe ein.“

„Er wird die Briefe für das Schloß an Hermann abgegeben haben.“

„Von ihr wird keine Nachricht dabei gewesen sein. Hermann geht langsam, verstimmt.“

„Der arme Hermann!“

„Und die arme Marie!“ setzte das Mädchen hinzu. „Es muß ihr ein Unglück, ein großes Unglück begegnet sein.“

„Auch ich fürchte das.“

„Tante, wenn sie gestorben wäre! Ich habe so schwere Ahnungen.“

„Du bist leicht aufgeregt, Emma!“

„Der arme Hermann! Und die arme Marie! O, Tante, es muß entsetzlich sein, so fern von dem Geliebten, so allein zu sterben –“

„Kind,“ sagte die Generalin, halb verwundert, halb von der Angst des Mädchens mitergriffen, „wie kommst Du zu solchen Gedanken?“

„Und,“ fuhr die Kleine fort, „so nahe am Ziele, nach so langem Harren, so schwerem, bitterem Leiden. Wie unglücklich muß diese gute Marie gewesen sein! Wie liebe ich sie! Nein, nein, sie kann nicht gestorben sein. – Wie will ich sie lieben!“

Ein Herr schritt durch den Garten die Terrasse herauf; es war der Major von Rixleben. Ein hoher, stolzer Mann, mit festen, aber nicht harten Gesichtszügen, mit einem etwas finsteren, aber nur schwermüthig finsteren Blicke. Man sah es ihm an, daß er viel gelitten, aber auch, daß er seine Leiden stets mit Kraft und Würde getragen habe. Trotzdem hatte er nicht wehren können, daß das Leiden ihm ein älteres Aussehen über seine Jahre hinaus gegeben hatte. Ein kräftiger und ein schöner Mann war er gleichwohl noch immer.

Die Nichte sprang ihm entgegen; die Generalin folgte ihr. Er küßte diese, und reichte jener die Hand.

„Der Weg war wieder vergebens, Hermann?“

„Ich weiß es nicht, Mutter!“

„Wie?“

„Ich bin in einer großen Unruhe; der Postwagen ist in Holzminden nicht angekommen. Dagegen ist die Nachricht eingetroffen, daß er zwischen Carlshafen und Lauenförde umgeworfen und die Achse gebrochen habe. Bis er reparirt sei oder bis andere Wagen herbeigeschafft worden, haben die Reisenden liegen bleiben sollen. Vor Mittag erwartet man sie nicht in Holzminden.“

„Man hat also Nachricht von ihnen? Auch ob eine Dame unter ihnen war?“

„Der Briefbote wußte nichts davon.“

„Armer Hermann, ich kann mir Deine Unruhe denken.“

Die Nichte Emma hatte aufmerksam, beinahe mit angehaltenem Athem zugehört. Auf einmal trat sie rasch zu dem Major und ergriff dessen Hand.

„Hermann, Du mußt Gewißheit haben; Du selbst darfst nicht nach Holzminden; ich fahre hin. Ist Marie nicht unter den Reisenden, so kehre ich auf der Stelle zurück; ist sie aber da, so führe ich Deine Braut in Deine Arme.“

Sie sprach leidenschaftlich und lächelte, während ihre Augen glänzten, als wenn sie feucht wären.

„Immer so heftig, Emma,“ warnte besorgt die Generalin.

„Du erlaubst mir doch, hinzufahren, liebe Tante?“

„Wenn Hermann nichts dagegen hat –“

„Hermann –!“ Sie sah ihn bittend mit den feucht glänzenden Augen an.

„Fahre, mein gutes Kind.“

Emma eilte in das Schloß, den Wagen zu bestellen. Die Generalin und der Major folgten ihr langsam.

Kurz vorher hatte sich Folgendes zugetragen: An der andern Seite der Weser, etwas oberhalb des Schlosses, befand sich eine Fähre zur Vermittelung des Verkehres zwischen den benachbarten Dörfern und Gütern zu beiden Seiten des Stromes. Aus den Bergen des Sollingerwaldes führte eine schmale Bergstrecke dahin. In dieser Strecke war eine einspännige Bergchaise näher gekommen; sie fuhr bis an das Fährhaus. Dort stieg eine einzelne Dame aus; ein Reisekoffer wurde von dem Kutscher aus dem Wagen getragen. Der Kutscher empfing dann von der Dame seine Bezahlung, und kehrte mit seiner Chaise in das Gebirge zurück.

Unmittelbar darauf trat der Fährmann aus seinem Häuschen; er wechselte ein paar Worte mit der Dame, zog den Fährkahn näher an das Ufer, hob den Koffer der Dame auf, legte ihn in den Kahn, sprang’ in diesen, half der Dame einsteigen, stieß von dem Ufer ab und ruderte nach dem gegenüberliegenden, in der Richtung des Schlosses Harthausen.

Die Dame hatte sich still auf eine Bank in dem Nachen gesetzt, und saß auch während der Ueberfahrt schweigend, hatte aber schon vor dem Einsteigen forschende Blicke auf das Schloß und dessen Umgebung geworfen; zuweilen wiederholte sie diese während der Fahrt. Meist aber waren ihre großen schwarzen Augen in tiefem Nachsinnen auf das Wasser gerichtet, so nachdenklich, so starr, so versenkt, als wenn sie in den Wogen oder unten in dem dunklen Gründe des Stromes ihr Schicksal, ein dunkles, schweres Schicksal suche. Dabei war sie äußerlich vollkommen ruhig; ihr Busen bewegte sich nicht, kein Seufzer drängte sich über ihre Lippen; unterdeß war das andere Ufer erreicht. Die Dame sprang leicht aus dem Nachen. Der Fährmann befestigte sein Fahrzeug mit einer Kette an einem Pfahle; dann folgte er der Dame mit ihrem Koffer. Es mußte das schon vorher so mit ihm verabredet sein.

Der Nachen hatte dicht an dem Garten angelegt, der das Schloß umgab. In der Nähe befand sich in der Hecke ein Pförtchen; zu diesem führte der Fährmann die Dame. Es war nicht verschlossen. Beide traten in den Garten und schlugen den Weg zum Schlosse ein; der Schiffer mit dem Koffer auf der Schulter ging voraus, die Dame folgte ihm. In dem Garten war Niemand. Das Schloß war fast fortwährend durch Bäume und Strauchwerk verdeckt.

Die Dame folgte dem Fährmann mit sicherem Schritt. Ihre Augen suchten nur das Schloß, und schienen die Fenster, die Mauern durchbohren zu wollen, wenn es zuweilen hinter den Bäumen durch das Strauchwerk hervorsah. Wie vorhin in den Wellen und auf dem Grunde des Stromes, schien sie jetzt ihr Schicksal hinter den Mauern, in dem Inneren des Schlosses zu suchen.

Sie wurde unruhiger, ihr Gesicht war von einer eigenthümlichen, fast leichenähnlichen Blässe überzogen. Einige Schweißtropfen standen auf der Stirn, sie schienen trotz der Wärme des Maimorgens kalt und kältend zu sein. Die Augenhöhlen schienen sich zu erweitern, ein dunkelblauer, beinahe bräunlicher Rand umgab sie. Ihr Busen hob sich; schwer drängte der Athem sich zwischen den weit geöffneten Lippen hervor. Als der Pfad einmal eine kleine Anhöhe hinanführte, mußte sie ihre Schritte einhalten; es war, als wenn die Kniee ihr brechen, der Athem ihr ausgehen wolle. Sie raffte sich zusammen, und folgte mit erneueter Kraft dem Fährmanne. Ihr Auge blickte durchbohrender, finsterer nach dem Schlosse, aber es blickte fortwährend mit einem unwandelbar festen Entschlusse.

Sie erreichte die Terrasse vor dem Schlosse, und stand auf derselben Stelle, auf der wenige Minuten vorher die Generalin mit ihrem Sohne und ihrer Nichte gestanden hatte. Auch dort wurde sie von Niemandem bemerkt. Sie hielt einen Augenblick an, sie war noch etwa zehn Schritte von dem Schlosse und der Thür entfernt, die in dasselbe hineinführte. Sie warf plötzlich einen wilden, einen wie zwischen Leben und Tod suchenden Blick auf das Schloß, auf die Thür; dann drehete sie sich wie unwillkürlich, rasch und heftig um. Ihr Auge schweifte zurück in die Gegend, aus der sie gekommen war, es schweifte in derselben Richtung weiter, den Strom hinauf, über die hohen Berge des Solling hinüber. Widersprechende Gedanken schienen ihr Inneres zu durchfliegen; Entschlüsse schienen in ihr mit einander zu kämpfen; aber das Alles dauerte nur einen Augenblick. Ihr Auge blickte wieder finster, und der unwandelbar feste Entschluß, der sich vorher darin ausgesprochen hatte, stand deutlich in dem blassen Gesichte.

Sie setzte den Fuß wieder voran, dem Schlosse zu, langsam, aber fest und sicher. In dem Schlosse war Alles still; niemand

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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 34. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_034.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)