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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

ist schön und uralt. Schon Juvenal, der alte römische Satyriker, schildert die Trauer in Verbindung mit dem Hasse des Herdfeuers und rauchlosen Schornsteinen, und das „nie ausgehende Feuer auf dem häuslichen Herde“ galt als sprüchwörtlicher Ausdruck für glückliches Familienleben.

Ueberhaupt haben sich unter den gewöhnlichen Leuten in und um Neapel trotz der vielen Priester noch viel altheidnische, römische Glaubensartikel erhalten, z. B. der, daß die Seelen der Verstorbenen während des Todtenfestes auf der Erde spazieren gehen und die Ihrigen besuchen. Viele Familien lassen deshalb Speisen und Getränke während der Nacht auf dem Tische, damit die Seelen der Geliebten sich gütlich thun können. „Wir ließen allemal einen Teller Maccaroni auf dem Tische,“ erzählte eine Frau, „und Großmutter pflegte zu sagen, daß Großvater oder Oheim vielleicht kämen, um davon zu essen. Doch obgleich die Maccaroni sehr hübsch zubereitet und mit geriebenem Parmesankäse bestreut waren, fanden wir sie am Morgen stets unberührt. Aber Großmutter meinte dann, die Geister hätten keinen Hunger gehabt und schon vorher etwas Besseres genossen.“

Wir finden dieselbe Sitte schon vor Jahrtausenden bei den alten Römern, wenn sie ihre Silicernia feierten. Was der menschlichen Natur in ihrer Einfalt und Gläubigkeit entspricht, das können alle Herrscher und Häscher nicht ausrotten, erschiene es dem Aufgeklärten auch noch so unsinnig. Der natürliche, ungebildete Mensch braucht für die Liebe der hingeschiedenen Lieben ein Band, das er, wenn er’s einmal in Glaube und Liebe gefunden, sich nicht zerreißen läßt. Sie sind damit besser daran, als die Aufgeklärten, welche mit allem Scharfsinn und aller Gelehrsamkeit keinen Ariadnefaden entdecken, der sie durch das schauerliche Labyrinth zwischen dem Diesseits und einem vom Glauben geschaffenen Jenseits zu leiten im Stande wäre.

Uebrigens können sich die Neapolitaner am wenigsten über Behinderung ihres Aberglaubens durch Aufklärung beklagen. Sie haben’s nicht einmal bis zu dem Leo’schen „Bildungsdr…“ gebracht. Zwar hat das Volk seine Literatur, seine Bibliotheken sogar, aber es kann nicht lesen, und was es liest, ist blos erbaulich, aber nicht bildend. Treten wir an eine Volksliteraturwand heran, denn an den Wänden hängt sie fast immer angekleistert. Seht, wie die braunen Massen mit ihren gelben Gesichtern aus den Lumpen in die Höhe starren und studiren! Plakate, politische Aufklärung gebend! Plakate? Ja, zwar keine 1848er, aber doch Plakate: polizeiliche Verordnungen nämlich, wie gestern, wie seit Wochen, seit Monaten, seit Jahren, etwas über eine Eisenbahn, einen neuen Sänger auf dem San Carlotheater u. s. w. Was geht dem Lumpengesindel der neue Sänger an? Sie haben ihn nie gehört, werden ihn nie hören, gehen aber nach Hause und diskutiren lebhaft über seine Tugenden und Fehler, da die Polizei hier gar nicht eingreift.

In den meisten großen Straßen finden wir Volksliteratur angeklebt und an Bindfaden aufgesteckt, gewöhnlich mit fürchterlichen Holzschnitten auf dem Titel, wie die Volksliteratur in England, mit Holzschnitten, die mit dem Texte oft in gar keinem Zusammenhange stehen und deshalb um so mysteriöser wirken: „Krieg zwischen Katz’ und Maus,“ „die Geschichte von Florindo und Chiarastella,“ „Geschichte der Mörderin Marcia Basile, enthauptet wegen höchst schauderhaft zu lesender Ermordung ihres Ehemannes zu Gunsten ihres Liebhabers.“ – So etwa sieht die Volksliteratur in Neapel aus, etwa ebenso wie just in dem gebildeten, freiesten England.

Es gibt auch Buchhändler in Neapel mit Büchern, wie: „Reime zu Ehren der heiligen Jungfrau, aus dem dreizehnten Jahrhundert“ – „Der Fall der Republik in England“ – „Der Monat Juni geweiht dem heiligen Blute unseres Herrn Jesus Christus“ – „Sammlung guter Bücher für Tugend und Wahrheit“ u. s. w. Letztere Sammlung wird von der Regierung begünstigt und zur Verbreitung empfohlen. In einem Buche für Kinder: „Prosa und Verse, nützliche Speise für die Fasttage“ kommen Rezepte gegen verschiedene Uebel und Landplagen vor, z. B. „Was ist gut gegen einen Demagogen?“ Antwort des Kindes: „Ein Galgen. Die Anwendung desselben kurirt ihn in wenig Minuten.“ – „Was ist gut gegen einen ehrgeizigen Demagogen?“ „Der Pranger mit Halseisen, weil ihn dann alle Leute ansehen.“ So geht es fort bis zum Schlusse. Der Inhalt sieht ganz so aus, als hätte Professor Leo in Halle das Buch geschrieben.

Die Neapolitaner arbeiten und leben nicht, sie gehen, wenigstens viele blos müßig und in’s Theater. Das Theater ist ihre Gesellschaft, ihr Besuchszimmer, wo man Freunden und Bekannten in den Logen seine Aufwartung macht, und so die Kostspieligkeit des Gesellschaftgebens zu Hause spart, ihr Eins und Alles. Es ist immer zum Drücken voll, zum Dampfen heiß und immerwährend der gräßlichste Spektakel, so daß man vor Bravo’s, Beifallsgebrüll und Mißfallengezisch nicht einmal das immerwährende Gesumse und Geplauder der Logen hören kann. Viele neapolitanische Familien leben in der größten Armseligkeit zu Hause, und essen sich nicht einmal in Maccaroni satt, blos um mit ihrer Equipage auf dem Corso und persönlich in einer Theaterloge zu brilliren.

Freilich auch das Theater ist neuerdings durch polizeiliche Verbote verödet und verwüstet worden, und wie die ehemals berühmten Karnevalsfreuden jetzt aussehen mögen, davon zeugt ein pikantes Erlebniß. In dem herrlichen, heiteren, berühmten San Carlotheater, dessen berühmte Sängerinnen jetzt in London, Petersburg u. s. w. zu finden sind, nur nicht im San Carlotheater, sollte ein Karnevalsball gefeiert werden. Der englische Korrespondent, dem wir die heutige Mittheilung überhaupt verdanken, bezahlte also seine drei Schillinge Entrée und ging, erstaunt über die schweigsamen Hallen und Gänge, hinein, um die berühmten neapolitanischen Karnevalslustbarkeiten zu sehen. Ringsum starrte Alles von Soldaten, Helmen und Bayonnetten, glitzernd in blendender Beleuchtung von tausend Lichtern.

„Ich zählte 110 Soldaten und Polizeibeamte inwendig, ohne die Kavallerie außerhalb, und sieben Ballgäste. Sieben in dem großen ungeheuern Gebäude! Drei in bajazzoartigem Kostüm gehen sehr ernst und schweigsam Arm in Arm. Einer steht und tritt allein umher; dort ein Fünfter im schwarzen Domino wie ein Leichenbitter. Ein Sechster, Engländer, steht am Eingange, ich bin der Siebente. Das Orchester bläst und dutet von Oben in die leeren Räume herab und ich denke eine Minute nach der andern, daß die lustigen Leute nun bald plötzlich zu Tausenden hereindrängen werden. Aber es erscheint nur manchmal ein gar pflichteifriger Polizeibeamter und mustert uns Sieben nach einander, ob er nichts zum Verbieten, Wegnehmen, Einstecken erspähen könne. Endlich kommt eine nicht polizeilich und nicht militairisch angethane Person, der Billetabnehmer, der nichts abzunehmen hat und aus Langeweile in die Leere hereintritt. Ich frage ihn:

„Ist der Ball vorüber?“

„Nein, noch nicht angegangen.“

„Wenn fängt er an?“

Der Billetabnehmer lächelt und deutet mit dem vorsichtigsten, kaum bemerkbaren Kopfnicken auf ein großes Polizeiplakat an der Wand. Dies löst das Räthsel auf einmal. Alles Salz und Gewürz zu ihrem nationalen Feste war verboten worden, so daß die Leute beschlossen hatten, anderswo oder lieber gar nicht zu soupiren. Das Polizeiplakat verbot nämlich alle möglichen Dinge, welche dem Balle die alte nationale Lustigkeit gegeben haben würden, alle Arten von Witz und Humor, wie ihn das Volk erfunden hat und den sie bis zum Wahnsinn lieben. Das Polizeiplakat enthielt außerdem eine lange Liste von Masken und Charakteren, die nicht erscheinen, eine noch längere Liste von Gegenständen, über welche die Leute nicht sprechen sollten. Nun wunderte ich mich nicht mehr über uns traurige Sieben, die sich während der ganzen Stunde, die ich aushielt, nicht vermehrten. Als Vier verschwunden waren, ließ ich zwei Eremiten zurück und ging davon. Nein, ich ward von einem Bayonnett aufgehalten und mit dem Befehle zurückgetrieben, daß ich links abgehen müsse, dies rechts hier sei der Eingang, der natürlich wegen der Menge imaginärer Hereindrängender nicht als Ausgang passabel sein dürfte. So ging ich einsam mit hohlklingendem Wiederhall meiner Schritte über die Bretter, welche die Welt Neapel bedeuten, rechts ab, voll von einer ganz neuen Wahrheit.

Nun erst habe ich eine Vorstellung von einer Regierung, so furchtsam, daß sie den Gedanken nicht ertragen kann, man spreche von ihr, seien es auch nur lustige Maskenball- und Karnevalsgäste. Ich begreife nun das südliche, leicht erregbare Volk und die entsetzlichen Eisenmassen, die man für nöthig erachtet, es niederzuhalten. Ach, diese politischen Untersuchungen, dieses Menscheneinfangen und diese Gefängnisse – sie sind furchtbar in diesem schönen Lande!

Jemand, der nach Neapel gereist war, um dort seine Gesundheit

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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 86. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_086.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)