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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

Ⅴ.

Henriette ward auf der erleuchteten Hausflur von einem Diener empfangen. Während sie den Wunsch aussprach, dem Präsidenten gemeldet zu werden, kam der Rath Bronner die Treppe herab. Ueberrascht grüßend ging er an der jungen Frau vorüber, denn er erkannte sie, trotzdem sie den Schleier vor das glühende Gesicht gezogen hatte.

Der Präsident befand sich allein, als der Diener Madame Bergt meldete. Er zuckte heftig zusammen bei diesem Namen. Nicht um einen Entschluß zu fassen, sondern um sich zu sammeln, zögerte er einen Augenblick mit der Antwort. An diesen Besuch hatte er nicht gedacht. Er befahl dem Diener, die Dame einzuführen.

„Der Rendant wirkt auf den Sekretair,“ flüsterte er mit einem satanischen Lächeln vor sich hin; „der Sekretair auf seine Frau, die ohne Zweifel wähnt, daß sie noch eine Gewalt über mich ausübt. In diesem Schritte liegt eine Demüthigung, welche die stolze Schöne zehnfach um mich verdient hat.“

Henriette trat schüchtern ein. Der zurückgeworfene schwarze Schleier zeigte ihr hochrothes, reizendes Gesicht. Die Bewegung ihres Busens ließ sich unter der dichten Hülle des seidenen Mantels deutlich erkennen. Es schien, als ob der Anblick des fein lächelnden Präsidenten sie der Sprache beraubt hätte, denn sie grüßte durch eine tiefe, ceremoniöse Verneigung, und blieb schweigend neben der Thür stehen. Das kleine Zimmer war hell von zwei Wachskerzen beleuchtet.

„Man hat mir Madame Bergt angemeldet,“ sagte der Präsident, ihr zwei Schritte näher tretend. „Empfange ich vielleicht die Gattin des Sekretairs Herrn Bergt?“

Henriette schöpfte tief Athem, dann antwortete sie ruhig und fest: „Der Sekretair Bergt, Herr Präsident, ist seit einem Jahre mein Mann.“

„Madame Bergt!“ rief Seldorf scheinbar überrascht, als ob er jetzt erst Henrietten in ihr erkannte.

„Sollten Sie nicht wissen, mein Herr, daß ich K. verließ, um dem Manne, den ich liebte, die Hand zu reichen?“

„Wahrlich nein! Sie waren so plötzlich verschwunden –“

„Sie vergessen den Ball am Geburtstage unsers Fürsten.“

„Ja, ja, ich sah Sie und entdeckte eine Ähnlichkeit mit einer jungen Dame, für die ich mich vor einigen Jahren lebhaft interessirte. Mögen Sie das Glück in der Ehe finden, das Ihnen zu bereiten einst mein sehnlichster Wunsch war.“

Er reichte der jungen Dame lächelnd die Hand, und führte sie zu dem Sopha. Henriette war so erschöpft, daß sie sich niederließ. Seldorf nahm ihr zur Seite seinen Platz.

„Was führt Sie um diese späte Stunde zu mir?“ fragte er höflich, aber mit einer Kälte, die der beobachtenden Henriette nicht entging.

„Eine Bitte, deren Erfüllung Ihnen nicht schwer werden wird, wenn ich Sie daran erinnere, daß Sie der Freund meines seligen Vaters waren.“

Der Präsident betrachtete lächelnd die kostbaren Ringe an seinen Fingern, indem er antwortete:

„Madame Bergt begeht einen Mißgriff in der Wahl des Mittels, das mich geneigt machen soll, wenn es überhaupt eines solchen Mittels bedarf. Die Erinnerung an jene Zeit wird durch einen Schatten getrübt, den kein Sonnenstrahl zu verscheuchen vermag. Sie sehen, ich bin offen –“

„Ich sehe, mein Herr, daß Sie mir die Stellung bezeichnen, die Sie mir gegenüber einnehmen wollen, und daß Sie auch mir die meinige anweisen,“ unterbrach ihn Henriette.

„Sie haben sich Ihre Stellung selbst gewählt, Madame, denn Sie sind die Gattin des Herrn Sekretairs Bergt.“

„Und in dieser Stellung bin ich stolz und glücklich!“ rief Henriette würdevoll.

„O, wer zweifelt daran, Madame! Sind Sie vielleicht gekommen, um mir dies zu sagen?“

„Nein, nein Herr, nein, obgleich ich den Antheil kenne, den Sie an meinem Geschicke nehmen.“

„Sie sind gereizt, Madame!“ sagte der Präsident. „Doch kommen wir auf den Grund zurück, der mir die Ehre Ihres Besuches verschafft.“

„Herr Präsident, Sie wollen morgenfrüh die Ehrlichkeit. des greisen Kassenrendanten Ernesti auf die Probe stellen?“

„Ah, das ist es! Nun?“ fragte er lächelnd.

„Ich bitte Sie, diese Prüfung bis zur Rückkehr des Fürsten aufzuschieben.“

„Warum, Madame?“

„Weil er zuvor mehre Papiere realisiren muß, die erst bei der Rückkehr Sr. Durchlaucht zahlbar sind. Diese Papiere vertreten eine Summe von dreitausend Thalern.“

„Ihre Bitte wirft ein trübes Licht auf die Ehrlichkeit des Rendanten, Madame.“

„So muß es scheinen.“

„Dieser Schein macht es mir zur Pflicht, eine genaue Revision vorzunehmen.“

„Und Nichts kann Sie bestimmen, davon abzustehen?“

„Nichts! Ich bin fürstlicher Diener, und darf die Obliegenheiten meines Amtes nicht versäumen. Sind die Papiere des Rendanten gut, so begreife ich nicht, warum er eine Revision fürchtet.“

„Er fürchtet nur, daß einer seiner Vorgesetzten dabei compromittirt werde.“

„Das fürchtet er?“ rief lachend der Präsident. „Der gute Mann ist um seine Vorgesetzten sehr besorgt! Aber warum sendet er mir eine so liebenswürdige Botin?“

„Ich komme aus freiem Antriebe; Ernesti weiß nicht einmal, daß ich diesen Schritt unternommen habe, den Niemand mehr zu würdigen wissen muß, als Sie. Doch ich sehe, ich habe mich getäuscht, und ziehe mich zurück.“

Henriette erhob sich.

„Wie schön sie ist!“ dachte Seldorf, der die junge Frau mit den Blicken verschlang. „Gewiß, Madame, ich weiß die Ehre Ihres Besuchs zu schätzen, und noch mehr die Ueberwindung, mit der Sie ihn abstatten,“ sagte er laut. „Sie weinen? Ihre Thränen rühren mich, aber ich kann sie nicht trocknen, wenn ich dabei meine Pflicht verletzen muß.“

(Schluß folgt.)


Nizza und seine Umgebung.
Nizza’s charakterlose englische Physiognomie. – Drei Tage in einer italienischen Familie. – Das Fürstenthum Monaco und sein Landesherr Florestan. – Riviera di Ponente (die Corniche-Straße.) – Der Landsitz eines Adeligen. – Hausmannskost. – Der Hausfreund. – Zeitungen und Politik. – Citronenbau. – Das Getreide der Süd-Sardinier oder Piemonteser. – Fischerei alla fucina. – Ventimiglia.

Ich habe Ihnen in letzter Zeit aus Neapel und schon früher einmal aus Genua von Truppen und Kriegsschiffen geschrieben. Sehen wir uns jetzt auch andere Theile Sardiniens und zwar im Frieden an, zunächst meinen Aufenthaltsort Nizza.

Nizza mit seinem wundervollen blauen Himmel, seinem lachenden Meere vor sich und seinem großen Schutzpatron, der vor dem rauhen Norden und dem barbarischen Osten schützenden Felsenparthie, im Rücken, ist gleichwohl ein sehr langweiliger und eigentlich gar kein Ort. Er ist zunächst durchaus nicht italienisch. Von der nahen Grenze des kaiserlichen Frankreich würde er etwas Französisches haben, wenn er nicht zu englisch wäre. Als zu englisch hat er zugleich zu wenig von dem materiellen Komfort, der in wirklich englischen Städten die Leute für Langeweile und Farblosigkeit ihres Lebens entschädigt, denn er ist außer französisch auch russisch und deutsch. Nizza hat keine Individualität; es fehlt den 35,000 Einwohnern an Allem, was man charakteristisch oder interessant finden könnte. Die Leute haben nicht einmal alle die Schwindsucht, um derentwillen die Meisten sich hier aufhalten sollen. Dieses Privilegium, den Lungenleidenden als Labe zu dienen, hat die Stadt längst verloren, seitdem die Aristokratie und reiche Shopkeeperei Englands sich gewöhnt hat, sie zu ihrem Winterquartiere zu machen. Dies thun zwar auch Deutsche, Franzosen, und neuerdings besonders

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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 104. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_104.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)