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gehalten. Anfänglich wurden stets warme Speisen, später Wasser und Wein mit Brot und Salz gereicht, und wechselseitige Unterredung, Austausch von Erfahrungen gegenwärtiger oder abwesender Mitglieder füllte damals den größten Theil der Feier aus. Gegen Ende seines Lebens hielt Zinzendorf jeden Mittwoch und Sonnabend mit seinen Hausgenossen ein Liebesmahl, wozu er die Arbeiter und einzelne Gemeinmitglieder einlud und mit Nachrichten aus dem Reiche Gottes unterhielt. Nach seinem Tode beschränkte man die Feier der Liebesmahle, wie sie gegenwärtig stattfindet, auf die Verbindung mit besonderen Festtagen der Gemeine und mit dem Genuß des heiligen Abendmahls.

In dieser Verbindung werden die Liebesmahle von den Herrnhutern zum „Liturgikum“ gezählt. Das Liturgikum oder der Inbegriff aller gottesdienstlichen Einrichtungen und Gebräuche soll herzansprechende Einfalt zum Charakter haben und dasjenige, was außer dem Herrnhuterthum oft nur Privatsache für Einzelne sei, zum Gegenstand öffentlichen, gemeinschaftlichen Genusses machen. Die Verbreitung christlicher Erkenntniß soll in den Vorträgen mit Förderung der Gefühlsinnigkeit Hand in Hand gehen. Auf die letztere zweckt namentlich die gemüthvolle Art und Weise ab, wie von allgemeinen Kirchenfesten die Advents- und Passionszeit gefeiert wird. Außer den allgemeinen Kirchenfesten, dem Jahreswechsel, Erntefest und den bereits erwähnten Chorfesten begehen die Herrnhuter auch die Gedenktage ihrer besonderen Kirchengeschichte mit religiöser Andacht. Der Sonntagspredigt geht früh das Gebet der Kirchenlitanei voraus und Abends folgt ihr gewöhnlich eine „Gemeinstunde.“ Neben den Gemeinstunden sind Singstunden, Liturgieen (Wechselgesänge zwischen den einzelnen Chören), Bibellectionen (mit untermischter Erklärung der heil. Schrift) und das Verlesen von Gemeinnachrichten oder Lebensläufen Gegenstand der Abendversammlungen. Mit dem Jahr 1731 wird das Abendmahl alle vier Wochen, Abends, gefeiert und mit dem sogenannten Sprechen eingeleitet, einer Art Privatbeichte, welche die Vorbereitung der Herzen auf den bevorstehenden Abendmahlsgenuß zum nächsten Zweck, die Unterhaltung gegenseitiger Bekanntschaft zwischen den Chorarbeitern und ihren Pflegebefohlenen zum eigentlichen Endziel hat.

Die Herrnhuter huldigen dem liberalen Grundsatz, daß keine Form den Geist bindet, daß jede Form wegfalle, sobald der Geist daraus entwich. Dieser Grundsatz ist auf Verfassung und selbst auf Einzelheiten der Lehre nicht ohne Einfluß geblieben, seine meiste Anwendung hat er auf das Liturgikum gefunden. Die Herrnhuter bezeichnen es selbst als ein Kleinod ihrer Kirche, daß sie die Freiheit habe und behalte, in ihrer gottesdienstlichen Weise nach den Umständen und Bedürfnissen zu ändern und zu bessern. So theilten sich seit dem 27. August 1727 je 24 Personen in die 24 Stunden des Tages und beteten jedes während ausgelooster Stunde für alle Diejenigen, deren Anliegen ihnen eigens dazu in einer wöchentlichen Versammlung bekannt gemacht wurden. Als aber der Drang der Fürbitte nachgelassen und der Abschiedsbrief des alten Wattewille an die Synode von 1769 die Erkenntniß ausgesprochen hatte, daß „das Stundengebet zu einem bloßen Ehrenamt mehr ausgeartet und kaum etwas als der Name davon übrig war,“ so wurde nicht gezögert, mit dem Ehrenamt auch den Namen zu beseitigen und nur ein Nachklang jener liturgischen Einrichtung ist in den allgemeinen und engeren Beterversammlungen der Gegenwart zurückgeblieben. Um dieselbe Zeit wie das Stundengebet und gleich dem Liebesmahl eine Nachahmung apostolischer Sitte wurde auch das Fußwaschen eingeführt, zuerst von Einzelnen gegen Einzelne bei beliebigem Anlaß geübt, später chorweise vor jedem Genuß des Abendmahls vollzogen, zuletzt auf die Feier des Gründonnerstags beschränkt. Mit dem demüthig einfältigen Sinn aber, der im Fußwaschen seinen symbolischen Ausdruck suchte, kam auch das Fußwaschen selbst in Abnahme und endlich in Wegfall, wie mit der schwärmerischen Zeitströmung von 1745 bis 1750 auch die Illuminationen und Prozessionen des „Seitenhöhlchens“ und all’ die anstößigen Ueberschwenglichkeiten in Lehre und Leben vorüberströmten, welche die Herrnhuter selbst am schärfsten verurtheilen und die sie anfangs zwar „Niedlichkeiten,“ bald aber ihre „Sichtungszeit“ nannten.

Von den Gedenktagen der besonderen Kirchengeschichte ist der 13. November weitaus am wichtigsten. Es ist der Jahrestag der Herrnhutischen Verfassung. Nicht sowohl ihres Ausbaues, als ihrer Grundsteinlegung. Das Herrnhuterthum ist eine Hierarchie. Jede einzelne Gemeine wird durch die Gemeinkonferenzen verwaltet. Obenan steht die Aeltestenkonferenz, welcher die inneren und äußeren Angelegenheiten der Gemeine zum Zweck einheitlicher Leitung übertragen sind und welche deshalb die für das Innere und Aeußere angestellten „Diener und Dienerinnen der Gemeine resp. ihrer Chöre“ in sich vereinigt. Mit den für das Aeußere der Gemeine angestellten Dienern zusammen bildet eine Vertretung der Bürgerschaft das Aufseherkollegium, das sich mehr mit Gegenständen polizeilicher Natur beschäftigt. Das Aufseherkollegium hat zugleich die Streitigkeiten zwischen einzelnen Gemeinmitgliedern schiedsrichterlich zu vermitteln, denn alles unnöthige erbitterte Prozessiren gilt als unverträglich mit dem Brüdercharakter, und die allgemeine Almosenpflege zu besorgen, in welcher der brüderliche Charakter des Herrnhuterthums sich am reichsten und reinsten kund gibt. Die Mitglieder der Aeltestenkonferenz und des Aufseherkollegiums bilden mit einer weiteren Anzahl gewählter Vertrauensmänner den Gemeinrath, wo nicht etwa wie in den sächsischen Gemeinen sämmtliche volljährigen Bruder zu demselben gehören. Der Gemeinrath entscheidet in allen die bürgerliche Kommune betreffenden Angelegenheiten. Den Vorsitz in der Aeltestenkonferenz führt der „Gemeinhelfer,“ im Aufseherkollegium der Gemeinvorsteher, im Gemeinrath einer von beiden je nach der Natur des Gegenstandes, der berathen wird. Sämmtliche Gemeinen bilden miteinander die Unität. An der Spitze der Unität steht die Unitätsältestenkonferenz, welche in Berthelsdorf residirt. Sie theilt sich in drei Departements. Das Helfer- und Erziehungsdepartement berathet den inneren Gemeingang in Lehre und Leben, das Schul- und Erziehungswesen; das Vorsteherdepartement verwaltet die ökonomischen Angelegenheiten und das Missionsdepartement beaufsichtigt das Missionswerk. Die Unitätsältestenkonferenz wurde auf der Synode von 1769 geschaffen, als mit dem Tode des Grafen Zinzendorf „die mittelbare Weise aufgehört hatte, in welcher der Generalälteste der Brüderkirche mit derselben durch seinen Jünger bis dahin verhandeln konnte.“ Ueber der Unitätsältestenkonferenz stehen die Synoden, welche 1736 aus der alten Brüderkirche entnommen wurden. Sie sind der legislative, die Unitätsältestenkonferenz ist der exekutive Faktor Herrnhutischen Verfassungslebens. Dem Klerus ist auf den Synoden prinzipiell das Uebergewicht gesichert, obgleich auch den verständigen Vorschlägen des Laien die willigste Folge gegeben wird.[1] Seit 1736 sind bis jetzt 27 Generalsynoden gehalten worden. Alles aber – Synoden, Unitätsältestenkonferenzen, Gemeinkonferenzen und jedes einzelne Gemeinmitglied – wird unter dem speziellen Kirchenregiment des Heilands stehend gedacht, der, um Menschenherrschaft fern zu halten, am 13. November 1741 „von Stuhl und Stab der Brüderkirche als deren Generalältester Besitz genommen habe.“ In zweifelhaften Fällen, wo weder die biblische Anweisung noch das innere Gefühl und die äußeren Umstände hinreichen seinen Willen zu erkennen, forscht man danach mittelst des Looses; doch ist das Loos nur für Diejenigen verbindlich, welche es befragen.

Ich besuchte nach dem Liebesmahl den Gottesacker, der auf der östlichen Seite von Christiansfeld angelegt ist. Schmucklos und ohne Gepränge, aber wohlgeordnet liegen die langen Reihen der Gräber am Fuße der Linden; einfache Leichensteine zeigen gleichförmig über dem Reichen wie über dem Armen und ohne Ruhmredigkeit an, wie er heißt, wo und wenn er geboren war, wenn er „heimgegangen“ ist und selbst im Tode noch sind die Geschlechter geschieden. Nur auf der Brüderseite erhebt sich in einem Winkel ein Denkmal von Sandstein, mit schwarzem Kreuz darüber und dänischer Inschrift darauf; es ist von Dänemark den dänischen Kriegern gesetzt, die nach der Schlacht von Kolding zu Christiansfeld im Lazareth verstarben. Leichensteine, wie sie die Brüder haben, bezeichnen das Grab der deutschen Kämpfer aus jener Zeit. Erhebend aber mag an der Stätte die Feier des Ostermorgens sein, wenn bei den ersten Strahlen der Frühlingssonne die ganze Gemeine sich versammelt und zwischen den Gräbern ihrer Entschlafenen das Gedächtniß des Auferstandenen begeht im Gedanken der Auferstehung.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 120. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_120.jpg&oldid=- (Version vom 5.3.2017)
  1. Alle Mitglieder der Unitätsältestenkonferenz, alle Bischöfe, sämmtliche Brüder, welche Unitätsämter bekleiden, haben Sitz und Stimme auf den Synoden, und neben der Bürgerschaft jeder einzelnen Gemeine sendet die Aeltestenkonferenz derselben noch einen Synodaldeputirten. Ja die Unitätsaeltestenkonferenz hat das Recht, so viel Brüder sonst noch mit Sitz und Stimme in den Synodus einzuberufen, als sie für zweckmäßig erachtet.