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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

auf. Heute spricht Niemand mehr davon, Kinder können nicht Lehrer von Kindern, Unterofficiere die Leiter von Schulen sein. Der Lehrer muß selbst ein geistig entwickelter Mann sein, soll die geistige Entwickelung der Kinder ihm gelingen.

Wir könnten dem geehrten Leser noch Vieles über Diesterwegs literarische Thätigkeit und seine beständigen Kämpfe mit allen Gegnern der Volksbildung berichten, namentlich auf dem großen Gebiete der Methodik, müßten wir nicht fürchten, ihn zu ermüden. Wir eilen deshalb zum Schlusse dieses Artikels.

Diesterweg ward im Juli des Jahres 1847 mit Belassung des ganzen Gehaltes seines Amtes entbunden, ja erhielt noch ein ansehnliches Reisegeld, um Pestalozzistiftungen besuchen zu können. Anfeindungen von kirchlicher Seite hatten es, namentlich seit 1840, dahin gebracht. Selbst die strengste Untersuchung konnte keinen Grund zur Amtsentsetzung gegen ihn vorbringen. Es geschah unter dem Ministerium Eichhorn. Diesterweg schied ungern aus dem ihm liebgewordenen Amtskreise. Noch vor der Entscheidung suchte er um eine Audienz beim Minister nach. Sie ward ihm bewilligt. Er erzählt darüber: „Ich verließ dieselbe mit mehr Achtung, als ich gekommen. Der Herr Minister war offen und entschieden. Dies weckte auch in mir die Offenheit. Als ich eine halbe Stunde mit ihm gesprochen, ergriff er meine Hand und sagte, er bedaure, mich nicht früher kennen gelernt zu haben, dann wäre es wohl soweit nicht gekommen; dieses Weitgekommensein bestehe darin, daß beschlossen worden, mich aus dem Amte zu entfernen. Warum? Welche Thatsachen? Welche Amtsverletzungen? u. s. w., u. s. w.? Auf solche Fragen erklärte der Herr Minister, es sei einmal beschlossen, er könne selbst nichts mehr daran ändern. Ich wurde dann noch aufgefordert, selbst Vorschläge zu machen, wohin mit mir. Meine Rathschläge wurden nicht angenommen, der unwiderruflich gefaßte Beschluß aber wiederholt.“

Hören wir Diesterwegs Vertheidigung über seinen amtlichen Schiffbruch.

„Wir Lehrer haben es mit der Schule, d. h. mit der Jugend des Volkes zu thun, und ich habe es nur damit zu thun gehabt. Mir ist es nie in den Sinn gekommen, direct auf Staatsformen wirken zu wollen. Denn ich betrachte diese, wenn sie gut sein sollen, als eine Wirkung und nothwendige Frucht der Entwickelung des Menschen und der Nation. Auf diese nach Kraft und Gelegenheit zu wirken, war auch meine Aufgabe, wie es die jedes Lehrers ist. Der Pädagog will die Bildung der Nation befördern, die Bildung der Erkenntniß, des Gefühls, des Willens. Menschen dieser Art folgen der Vernunft, stiften ein Reich der Vernunft und der vernünftigen Freiheit. Nach ihrer Ansicht gibt es nichts Tolleres, Naturwidrigeres und Verderblicheres, als die nach ihrer Idee freieren und beglückenden Zustände machen, auf dem Wege der Ueberredung oder der Gewalt einführen zu wollen. Oeffentliche Zustände, Einrichtungen, Verfassungen, welche, dem Bildungsgrade einer Nation nicht entsprechend, künstlich eingeführt worden sind, dauern nie lange, verschwinden mit Nothwendigkeit nach kurzer Zeit wieder, verbreiten dadurch Mißmuth und Mißtrauen und versenken das Volk in niedrigere Zustände. Wie daher ein wahrer Pädagog niemals auf die Entwickelung des Menschen verzichten kann und wird, eben so wenig wird er jemals ein Demagog sein. Er will Alles auf dem Wege der natürlichen Entwickelung; diese aber will er immer und überall. Ihre Folgen können nur gute, nur beglückende sein. Denn die Bestimmung des Menschen liegt in der ihrer Natur entsprechenden Thätigkeit, und das menschliche Glück fällt mit der Erreichung der Bestimmung zusammen. Diese Sätze bezeichnen den Grund, das Ziel und die Grenze meiner Thätigkeit. Weniger, als sie setzen, habe ich nicht gewollt, aber auch nicht mehr.“ –

Möge nun der geehrte Leser das Schuldig oder Nichtschuldig über Diesterweg aussprechen!

Doch Diesterweg sollte noch Bittreres erleben. Das Jahr 1848 brachte ihm unter dem Minister Graf von Schwerin Aussicht auf Wiedereinsetzung in sein Amt. Doch das Ministerium war bald, wie auch das des Herrn Rodbertus, der Sense der Zeit verfallen. Im Frühjahr 1849 ward ihm die commissarisch zu verwaltende Stelle eines evangelischen Schulrathes in Marienwerder, später eine dergleichen in Hinterpommern, in Köslin, vom Minister von Ladenberg angetragen. Er konnte sich nicht entschließen, in jene entfernte Provinz auf Zeit und unter Umständen zu gehen, in denen er voraussichtlich nichts wirken konnte, zumal seine Anstellung keine definitive war. Die zweite Kammer strich im Februar 1850 seinen bisher bezogenen vollen Gehalt vom Budget, trotz der Verwendung von Ladenberg’s, und so ward er im Juli 1850 unfreiwillig in den Ruhestand versetzt.

Zum Schlusse noch Einiges über Diesterweg’s Persönlichkeit. Sein Angesicht zeichnet sich durch eine hohe Stirn aus, diese selbst klar, gewölbt, faltenlos, nichts weniger als düstere Fläche. Das Blitzen seiner fast tiefliegenden Augen kann unser wohlgetroffenes Portrait nicht wiedergeben. Ihr Blick ist scharf und durchdringend, in das Innere des Menschen hineintastend, doch allezeit von Wohlwollen, das ihn bis in den innersten Nerv durchdringt, freundlich und zutraulich verklärt. Die Bewegung der Augenlider ist schnell und aufeinanderfolgend. Die etwas gebogene Nase dünn und spitz, der Mund von dünnen, schmalen Lippen umschlossen; das mit einem Grübchen versehene Kinn hervorstehend und kühn. Diesterweg ist mittelmäßig groß, aber breitschultrig. Sein Gang außerordentlich rasch, doch fest, er läuft mehr spazieren als daß er geht; seine Körperhaltung ist durchaus männlich, die ganze Haltung äußerst beweglich, fast unruhig; die Muskeln spielen häufig. Geht er spazieren oder sitzt er im Freien, so wird jeden Augenblick die Mütze gelüftet, die innere Bewegung seines Geistes setzt auch den Arm in stete Bewegung.

Wo Diesterweg hinkommt, da ist Leben und Streben, da heißt es: vorwärts! da regt und bewegt sich Alles. Es ist unmöglich, theilnahmlos zu bleiben. So war’s am Rhein, so an der Spree, Keiner hat wie er den vieltausendgliedrigen Schulkörper in Bewegung zu setzen vermocht. Seine Schreibweise ergreift, beherrscht den Leser, läßt ihn nicht wieder los. Und neben dieser Thätigkeit nach Außen, welche Thätigkeit in stiller Klause, am Schreibtische und unter seinen um ihn herum auf Repositorien aufgestellten Büchern. Einen Tag verloren zu haben, dies ist ein schrecklicher Gedanke für Diesterweg. In früher Morgenstunde erhebt er sich vom Lager, setzt sich an sein Arbeitspult, und nun rauschen alle Flügel seines schöpferischen Geistes; bis gegen die achte Morgenstunde – so war es früher – gelangen ihm die trefflichsten Arbeiten. Die Morgenstunde hat bei ihm nicht blos Gold im Munde, sondern auch Eisen, womit er auf seine Gegner niederschlägt. Die Stunden, die ihm übrig bleiben, verwendet er zum Studium der eingegangenen, seinen Arbeitstisch bedeckenden Bücher und Zeitschriften. Auf der Höhe der Schule stehend, weiß er sofort das Tüchtigste aus jeder Schrift herauszufinden, alles Andere überschlägt er. Außerordentlich federgewandt, streicht er selten aus, der Strom der Gedanken fehlt ihm nie, die Form beherrscht er vollkommen. In geselligen Kreisen, in freundschaftlicher Debatte ist er der toleranteste, humanste Streiter gegen Jeden, dem es um die Besprechung edlerer Gegenstände zu thun ist. Man glaubt gar nicht, den immerwährenden Kämpfer auf der offenen Arena der Schule vor sich zu haben. Er geht auf jede Meinung ein, vorausgesetzt, daß sie nicht zu fade ist, oft unterstützt er seinen Gegner mit neuen Waffen gegen sich selbst. Alles Niedrige, Gemeine haßt er; glaubt er gute Eigenschaften an einem Menschen entdeckt zu haben, so duldet er nie, und wäre er sein schärfster Gegner, daß er ins Niedrige heruntergezogen wird. Stets nimmt er sich des Geschmäheten mit Entschiedenheit an, er ist ein Mann des Rechts, ein unerbittliches Gerechtigkeitsgefühl wohnt in ihm. Darum spricht er auch: „So viel aber stehet vor meiner Seele, dies eine fühl’ und erkenne ich klar: jede an einem Menschen verübte Unbill ist ein Vergehen; die unverdiente Drangsalirung eines Lehrers aber, dessen Beruf, wie die eines wohlklingenden Instrumentes, eine klare Stimmung fordert – ist ein Verbrechen, ein Verbrechen am Seelenleben des Menschen und an dem der Jugend. Johannes von Müller hat Recht, wenn er sagt: Das wisse jeder Fürst, jedes Volk, daß die Unterdrückung eines gerechten Mannes ein Schandfleck in allen Geschichtsbüchern ist.“



 

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