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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

Aerztliche Strafpredigten.
Nr. III. Gegen das Nichts-Thun und für das Rechte-Thun beim Kranksein.

Beim Kranksein liegt zwischen dem Nichtsthun (d. h. dem in gewohnter Weise Fortleben) und dem Mediciniren (Arzneischlucken) noch eine Behandlungsart des erkrankten Körpers mitten inne, die freilich, aber ganz ungerechter Weise, von Laien und leider auch noch von vielen Aerzten für Nichts angesehen wird, obschon sie, wir wollen dieselbe die „diätetische“ nennen, die naturgemäßeste (physiologische) ist und, da sie die genaueste Kenntniß von der Einrichtung und Oekonomie unseres gesunden und kranken Organismus verlangt, auch nur von wirklich wissenschaftlich gebildeten Aerzten ängeordnet werden kann. Sie allein ist es, welche Krankheiten verhüten, im Keime ersticken oder am gefahrvollen Umsichgreifen verändern kann. Es gehört wahrlich dazu kein großes Wissen und kein besonderes Genie, um dieses oder jenes von den angepriesenen Arzneimitteln bei dieser oder jener ausgebildeten Krankheit verschreiben zu können, oder gar, wie dies die homöopathischen Aerzte und Laien thun, gegen hervortretende Krankheitserscheinungen ein im homöopathischen Haus-, Familien- und Reisearzte u. s. f. empfohlenes Mittelchen aus der homöopathischen Haus-, Taschen- und Reiseapotheke hervorzulangen. Wohl bedarf es aber großer Umsicht und richtigen Wissens, bei einem Kranken ein passendes Verhalten in Bezug auf Nahrung, Luft, Licht, Wärme oder Kälte, Ruhe und Bewegungen u. s. w. anzuordnen. Denn es ist ein gewaltiger Unterschied, ob beim Unwohl- und Kranksein leicht- oder schwerverdauliche, flüssige oder feste, warme oder kalte, fett- oder elweißstoffreiche Nahrung, ob warmes oder kaltes Wasser, warme oder kalte Luft, ob helles oder gemäßigtes Licht, heiße, warme oder kalte Umschläge, Ruhe oder Bewegung u. s. f. in Anwendung gezogen werden.

Sehr oft sind es nur diese (physiologischen) Heilhülfsmittel, denen man die Besserung von Krankheitszuständen zu verdanken hat, während dies ganz mit Unrecht den medizinischen Eingriffen zugeschrieben wird. So ist z. B. in sehr vielen Fällen von äußeren und inneren Leiden die Wärme (in Gestalt warmer Luft, warmen Wassers, warmer Umschläge, warmer Bekleidung u. s. f.) das eigentlich Heilsame und Wirksame, nicht aber die nebenbei angewendeten Blutegel, Schröpfköpfe, Einreibungen, Pflaster, schweißtreibenden und anderen Mittel. So wirkt bei vielen Badecuren vorzugsweise das Wasser und die Luft heilend, nicht aber die im Wasser enthaltenen Mineralbestandtheile oder gar der Brunnengeist. Kurz die physiologischen Heilhülfsmittel, zu denen natürlich auch der in und auf unsere Nerven wirkende Elektro-Magnetismus zu zählen ist, die sind es, welche beim Kranksein hauptsächlich und weit mehr in Gebrauch gezogen werden müssen, als dies zur Zeit geschieht. Es versteht sich übrigens von selbst, daß man nicht etwa einem dieser Mittel bei allen oder sehr vielen Krankheiten aus besonderer Liebhaberei anhängen oder aus fanatischem Aberglauben eine ausschließliche Heilmacht zutrauen darf, wie dies leider noch viele Kaltwasserfanatiker, Badeärzte, schwedische Heilgymnasten und Magnetiseure thun. Jeder Fall von Kranksein muß gehörig durchschaut werden, soweit dies nämlich zur Zeit beim jetzigen Stande der Wissenschaft möglich ist, und er will dann auf diese oder jene passende Weise in seinem Verlaufe zum Gesundwerden unterstützt sein. Läßt er sich nicht durchschauen, dann sind, des Verf.’s Ansichten nach, die diätetischen Regeln zu beobachten, bei denen ebensowohl die Ernährung des ganzen Körpers wie der einzelnen, besonders der erkrankten Theile richtig von statten gehen kann; niemals darf aber blind und auf gutes Glück bald mit diesem oder jenem Mittel darauf loscurirt werden.

Als der wichtigste Anhaltspunkt bei Beurtheilung und Behandlung von Krankheiten muß die schon öfters angeführte, aber viel zu wenig anerkannte Thatsache gelten, daß unser Organismus von Natur so eingerichtet ist, daß Veränderungen in der Ernährung und Beschaffenheit der festen oder flüssigen Körperbestandtheile (d. s. die Krankheiten) solche Processe nach sich ziehen, durch welche jene Veränderungen entweder vollkommen, bald schneller bald langsamer gehoben werden (d. s. die Naturheilungsprocesse), oder die wohl auch bleibende, mehr oder weniger beschwerliche und gefährliche Entartungen, ja sogar Absterben des kranken Theiles oder des ganzen Körpers veranlassen. Natürlich muß bei jedem Kranksein der Naturheilungsproceß, so weit dies in unserer Macht steht, erstrebt und befördert werden oder man wird, wo dies nicht möglich ist, wenigstens denjenigen Proceß anzuregen versuchen müssen, welcher für die Zukunft den geringsten Nachtheil bringt. Von der kindischen Ansicht, die noch sehr viele Laien von der Heilkunst haben, daß der Arzt mit seinen Arzneien die Krankheit wie ein bestimmtes feindliches Etwas aus dem Körper austreiben oder auf erkrankte Organe seine Medicin wie ein Jäger seinen Hund auf einen Hasen hetzen, dadurch aber dieselben wie der Uhrmacher die schadhaften Theile der Uhr repariren könne, von dieser Ansicht sollte man sich doch endlich einmal trennen.

Die Ursachen, welche jene Veränderung in der Ernährung und Beschaffenheit unserer Körperbestandtheile, also Krankheiten hervorrufen (d. s. die Krankheitsursachen, Noxen, Schädlichkeiten), bleiben uns zur Zeit in den einzelnen Krankheitsfällen größtentheils unbekannt, obschon man im Allgemeinen recht gut weiß, was unserm Körper schadet, oder sie sind für uns, wenn wir sie auch kennen, sehr oft insofern nicht wichtig, wenigstens beim schon eingetretenen Kranksein, als sie jetzt nicht mehr in Wirksamkeit und überhaupt nicht mehr vorhanden sind. Nur in wenigen Fällen von Kranksein ist die Krankheitsursache noch auffindbar und zu entfernen, dadurch aber das Kranksein abzukürzen, selten sofort zu heben. – Auch die Folgen der Einwirkung einer Noxe sind für uns, hinsichtlich ihrer Heftigkeit, Dauer und Ausbreitung, sowie in Bezug auf ihren Sitz und ihre Art, in der Regel gar nicht zu bemessen, denn sie verhalten sich nach der Einrichtung (nach dem Grade der Reizbarkeit) unseres Körpers und nach dem Zustande seiner einzelnen Organe unendlich verschieden. So kann ganz dieselbe Ursache, welche bei dem einen Menschen eine sehr unbedeutende, schnell vorübergehende Störung in dem einen Organe erzeugt, bei einem andern ein lebensgefährliches oder unheilbares Leiden in einem ganz anderen Organe hervorrufen. Eine Erkältung z. B. veranlaßt bei dem Einen nur einen leisen Nasenkatarrh (Schnupfen), beim Andern dagegen tödtliche Herzbeutelentzündung, oder sie zieht wohl auch bleibende organische Herzfehler nach sich. – Sind in Folge schädlicher Einwirkung auf unsern Körper bestimmte krankhafte Veränderungen in demselben hier oder da eingetreten, dann lassen sich allerdings dieselben in vielen, leider aber nicht in allen Fällen, mit Hülfe der Wissenschaft erkennen und annäherungsweise auch in ihren etwaigen Folgen beurtheilen. Man kann dann ungefähr, aber in den meisten Fällen auch nur ungefähr und niemals mit Sicherheit, wissen, wie diese krankhaften Veränderungen durch bestimmte nachfolgende Processe entweder vollständig getilgt oder in andere, bleibende Leiden übergeführt werden können. Auch läßt sich dann, glücklicher Weise gar nicht so selten, ein günstiger Einfluß auf diesen oder jenen Ausgang einer Krankheit ausüben; aber freilich muß man, um diesen Einfluß ausüben zu können, den im bestimmten Falle etwa möglichen Verlauf einer Krankheit genau kennen. Einige Beispiele mögen vorläufig das Gesagte erläutern. Vom sogen. Schnupfen oder der katarrhalischen Entzündung (dem Katarrh) der Nasenschleimhaut weiß der Laie, daß derselbe in der Regel ohne alle ärztliche Hülfe ganz von selbst vergeht, dem gebildeten und vorsichtigen Arzte schwebt dabei aber immer auch noch die Möglichkeit vor, daß der Schnupfen, zumal bei Mißhandlung, Verdickung der Nasenschleimhaut (Stockschnupfen, Verstopfung der Nase und Geruchslosigkeit), Nasenpolypen, Geschwüre (Stinknase) und selbst Knochenfraß in der Nasenhöhle nach sich ziehen kann und er wird deshalb danach in jedem besondern Falle seine besondern Maßregeln ergreifen. – Beim Husten in Folge von Katarrh der Athmungsschleimhaut, der freilich in sehr vielen Fällen auch ohne alle Behandlung und Vorsicht vergeht, trifft trotzdem der gewissenhafte Arzt solche Anordnungen, daß aus diesem Katarrh, besonders bei kleinen Kindern, nicht etwa Croup (häutige Bräune), Keuchhusten, Lungenentzündung, Lungenerweiterung (Emphysem) u. s. w. erwächst. – Aeltere und fette Personen mit starren oder zu weichen, leichtzerreißlichen Blutgefäßwänden weiß der richtige Arzt dadurch vor Schlagfluß zu hüten, daß er ihnen das vermeiden läßt, was eine

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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 153. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_153.jpg&oldid=- (Version vom 13.9.2022)