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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

denn in seinem Baue gleicht es am meisten einem physikalischen Apparate und die Erfindung des Augenspiegels, auf die wir bald zurückkommen werden, hat ein Mittel zur Erkennung und Deutung aller krankhaften Veränderungen auf den Häuten des inneren Auges geliefert, welches für die Diagnose dieses Organs eine fast unumstößliche Gewißheit gibt. Alle diese Hülfswissenschaften, besonders die Mathematik und Physik, standen nun Gräfe in einem hohen Grade zu Gebote; dies in Verbindung mit einer streng physiologischen Auffassung und mit einer genialen Combinationsfähigkeit der theoretischen Regel mit der praktischen Thatsache machten es ihm möglich, die Augenheilkunde zu einer so streng gegliederten, mit feinen mathematischen Linien durchzogenen Wissenschaft zu erheben, als welche sie heutigen Tages von jedem gebildeten Arzte anerkannt wird. Ein besonderes Verdienst hat sich Gräfe durch die Anwendung des Augenspiegels erworben. Die Ehre dieser genialen Erfindung gebührt dem Professor Halmholtz in Königsberg, aber erst Gräfe hat dieselbe im ausgedehntesten Maße zu nutzen gewußt. Vermittelst dieser höchst einfachen Vorrichtung wurde es erst möglich, die tiefer liegenden und bisher verborgenen Zustände und Erkrankungen des inneren Augapfels zu erkennen und darauf ein neues und zweckmäßigeres Heilverfahren zu bauen. Die Construction des Augenspiegels gründet sich auf die Erfahrung, daß uns die Pupille des fremden Auges deshalb dunkel erscheint, weil die von den leuchtenden Körpern in das Auge fallenden Lichtstrahlen, welche von diesen zurückgestrahlt werden, wieder nach der Richtung der ersteren zurückfallen, so daß ein Auffangen derselben durch den direct in dieselbe Richtung vor das fremde Auge tretenden Beobachter, der auf diese Weise das Licht abschneidet, nicht möglich ist. Können wir daher unser eigenes Auge so postiren, daß wir diesen Uebelstand vermeiden, so werden wir das zu beobachtende, fremde Auge in vollster Beleuchtung ungehindert sehen und bis in seine Tiefen untersuchen können. Dies geschieht, indem wir durch einen in der Mitte perforirten Spiegel, den wir durch passende Beleuchtung zum Ausgangspunkte eines Strahlenkegels gemacht haben, nun in das fremde Auge blicken.

Mit dieser Erfindung ausgerüstet hat Gräfe der ganzen Augenheilkunde eine neue Gestalt und einen bestimmteren Inhalt gegeben, bisher ungekannte Zustände entdeckt, die innere Natur zwar bekannter, aber keineswegs erklärter Krankheiten dieses Organs aufgehellt und daraus ein sicheres, oft in seinen Resultaten überraschendes Heilverfahren hergeleitet. Unmöglich können selbst den gebildetsten Laien die einzelnen, wenn auch noch so wichtigen pathologischen Entdeckungen Gräfe’s in dem Maße interessiren, wie den Arzt, der mit gerechtem Staunen seine Leistungen auf diesem Gebiete bewundern wird. Nur mit einigen Andeutungen wollen wir uns daher begnügen, um nicht ganz den Beweis des Gesagten schuldig zu bleiben. So hat Gräfe z. B. eine schleichende Entzündung des inneren Augapfels (sclerotico-chorioditis posterior) zuerst als eine häufige Ursache der hochgradigen Kurzsichtigkeit und der darauf meist folgenden Erblindung durch Staar und Störungen auf der Netzhaut erkannt und durch zeitige Anwendung von Blutentziehungen mit Glück bekämpft. Mit Hülfe des Augenspiegels ist es ihm ebenfalls in jüngster Zeit gelungen, ein häufiges Leiden des Glaskörpers, unter dem Namen "der grüne Staar" bekannt, im Beginne sogleich zu entdecken und durch eine eben so einfache als geniale Operation die traurigen Folgen zu beseitigen. Derartige Patienten, welche früher rettungslos und zwar meist auf beiden Augen erblindeten, verdanken Grafes Forschungen von nun an ihr Augenlicht. Aeußerst interessant sind die verschiedenen Eingeweidewürmer, welche durch Gräfe in den Flüssigkeiten des Auges beobachtet und mit Glück entfernt worden sind. Auch diese seltene Krankheitsform führte früher meist unausbleibliche Erblindung herbei. Ein Hauptverdienst Gräfe’s besteht auch noch in der genauen Erforschung der Augenmuskeln und ihres Einflusses auf die verschiedenen Störungen des Sehorgans. Seine Arbeit über die Physiologie und Pathologie der schiefen Augenmuskeln, ebenso wie die über das Schielen gelten mit Recht als classisch.

Wir verlassen jetzt mit Gräfe seine Klinik. Er hat schon heute viel gethan; er ist um sieben Uhr früh aufgestanden und hat bis neun Uhr des Morgens gearbeitet, dann seine gewöhnliche Vorlesung abgehalten, die zum größten Theil von fremden Aerzten besucht wird. Bis drei Uhr nach Tisch dauerte der klinische Unterricht und die Abhaltung der Poliklinik, die von 100 bis 150 Augenkranken täglich besucht wird. Auch einige größere oder kleinere Operationen hat er bereits abgethan. Jetzt besteigt er den Wagen und sieht noch einige Patienten in der Stadt. Es ist bereits fünf Uhr, wenn er ermüdet in der Wohnung seiner Mutter anlangt, wo das Mittagbrod auf ihn wartet. Zuweilen nimmt er sich nicht einmal zum Essen Zeit und die Speisen werden ihm in den Wagen hineingereicht und schnell verzehrt. Um sechs Uhr beginnt die Privatsprechstunde in seiner Wohnung, die einige Stunden dauert und wo er ebenfalls täglich fünfzig bis achtzig Kranke empfängt und ihnen Rath ertheilt. Für jeden derselben hat er ein freundliches Wort, einen beruhigenden Trost und meist auch, wenn es nicht schon zu spät ist, sichere Hülfe. Jetzt erst beginnt Gräfe’s Arbeitszeit, die oft bis spät nach Mitternacht andauert. Wenig Männer in solch’ jugendlichem Alter und unter ähnlich glänzenden Verhältnissen dürften einen so hohen Grad von Selbstverleugnung besitzen und ihr ganzes Leben in dem Grade der Wissenschaft und dem Wohle der leidenden Menschheit weihen.

Gräfe’s einzige Erholung besteht in der Zusammenkunft mit seinen Jugendfreunden, mit denen er wie vor Jahren als lustiger Student an bestimmten Tagen sich vereint und in heiterer Ungebundenheit erfreut. Im Winter macht er mit ihnen seine gewohnte L’hombrepartie, im Sommer schiebt er am liebsten im Freien seinen Kegelstamm. So einfach sind seine Vergnügungen. Nur ungern erscheint er in größerer Gesellschaft, um so lieber bewegt er sich in einem kleinen Cirkel von gebildeten Frauen und Männern, zu denen einige Schriftsteller und eine rühmlichst bekannte und durch ihre Liebenswürdigkeit ausgezeichnete Künstlerin gehört. Hier herrscht ein heiterer, unbefangener Ton und auch Gräfe entfaltet dann seinen natürlichen Frohsinn und eine ansprechende Gemüthlichkeit. Gräfe hat den Grundsatz: Was man thut – ordentlich. In Folge dessen arbeitet er neun Monate ununterbrochen über Menschenkräfte; dafür gönnt er sich drei Monate, welche er auf Reisen zu seiner Erholung und Belehrung zubringt. In seiner Abwesenheit versehen seine Assistenten die Klinik und seine bedeutende Privatpraxis. Den größten Theil dieser Ferien verlebt er in den Hochgebirgen der Schweiz und Italiens, wo der Monte Rosa einer seiner Lieblingspunkte ist. Jeder noch so unzugängliche Paß ist ihm dort bekannt, jede lohnende Spitze hat er bestiegen. In jenen Gegenden ist er wie in Berlin als Augenarzt, als Alpenfreund und rüstiger Bergsteiger bekannt geworden. Er fühlt sich stets zu seinen Bergen hingezogen. Ein wahrer Wanderbursche zieht er dann unter Sang und Scherz mit einigen Freunden fröhlich über Berg und Thal, alte Studentenlieder anstimmend und in der herrlichen Natur, von reineren Lüften angeweht, Stärkung und Erholung suchend. Nur ungern ertheilt er auf diesen Reisen Consultationen; wenn er jedoch gezwungen wird, gibt er sich mit mehreren Patienten an verschiedenen Orten ein Rendez-vous; so im letzten Jahre auf Isola Bella mit mehreren russischen Familien, welche seinen Rath und seine Hülfe suchten. – Neben diesem Sinn für Natur hat sich Gräfe einen regen Antheil an der Kunst, besonders an der Musik, trotz seiner vielen Beschäftigungen zu bewahren gewußt. In früherer Zeit interessirte er sich auch noch für Philosophie, er war ein leidenschaftlicher Anhänger des Hegel’schen Systems und viele Jahre ein eifriges Mitglied eines in Berlin bestehenden Hegelkränzchens.

Sein Charakter zeichnet sich besonders durch einen tiefen Gerechtigkeitssinn gegen sich und Andere aus in allen seinen Handlungen und Urtheilen. Gern erkennt er die Verdienste Fremder an, während er selbst mit der größten Bescheidenheit auftritt. Seinen Collegen gegenüber erscheint er eben so human, als zuvorkommend. Im Verkehr mit den Kranken entwickelt er eine wohlthuende Theilnahme; er flößt durch wenige Worte schon das größte Vertrauen ein. Arme und Reiche behandelt er mit derselben liebevollen Aufmerksamkeit. Seine Klinik steht den Dürftigen unentgeltlich offen und seine Wohlthätigkeit beschränkt sich nicht blos auf die Ertheilung eines Rathes. Einen großen Theil seiner bedeutenden Einkünfte verwendet er lediglich zum Wohle seiner Mitmenschen und zur Verbesserung ihrer Lage. Er hat schon Vielen nicht nur das Augenlicht, sondern auch das Brod gegeben. Seinen Freunden ist er der beste Freund, getreu in Leid und Freud’; zu diesen zählt er zunächst seine sämmlichen Assistenten, die mit ihm nicht nur seine Beschäftigungen, sondern auch seine Erholungen theilen. Er lebt mit ihnen auf ganz gleichem

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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 191. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_191.jpg&oldid=- (Version vom 13.9.2022)