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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

„Wer waren sie?“

„Eine Madame Meier aus Hamburg, mit einer Verwandten oder Gesellschafterin.“

„Erwarteten sie hier Jemanden?“

„Eine Nichte.“

„Der Name der Nichte?“

„Ich habe ihn nicht gehört. Sie wollten hier auf der Eisenbahn mit ihr zusammentreffen, um sofort weiter mit ihr zu fahren.“

„Wohin?“

„Sie wollten in ein Bad.“

„In welches?“ fragte ich beinahe fieberhaft.

„Ich weiß es nicht genau. Ich glaube, nach Baden-Baden.“

„Besinnen Sie sich.“

„Ich kann es nicht bestimmter sagen.“

Der Kellner und die Stubenmagd wurden herbeigerufen. Diese wußten aber gleichfalls nichts Näheres, nichts Bestimmtes.

Nun hatte ich doch einen Anhalt; ich machte mir wenigstens einen. Die junge Dame, die Nichte der Madame Meier aus Hamburg, war noch beim Aussteigen aus dem Coupé in hohem Grade erschrocken gewesen; das Kind hatte so einfach aber doch so wahr ihr Erschrecken bezeichnet. Sie hatte gesagt, daß sie allein gesessen, daß auf einmal ein fremder Mensch zu ihr durch das Fenster gekommen sei; darüber hatte sie sich erschreckt, mit ihr noch hinterher die Tante. Das konnte nur auf der Eisenbahn geschehen sein. –

Ich eilte zum Bahnhofe, und ließ die Beamten um mich versammeln, die am vorgestrigen Tage den Morgenzug von R. nach K. begleitet hatten; zum Glück waren sie fast sämmtlich da. Anfangs wußte Keiner etwas; aber auf einmal kam Einem von ihnen eine Erinnerung. Es war derselbe, der auf der Fahrt den Waggon beaufsichtigt hatte, in welchem Hertel war.

„Wie bin ich gedankenlos gewesen!“ rief der Mann, und er erzählte nun: In R. hatte ein Mann eine sehr junge, blasse, leidend aussehende Dame auf den Bahnhof geführt und für sie ein Coupé erster Classe gesucht. Der Beamte hatte ihm eins anweisen wollen, in welchem schon ein paar Herren saßen. Der Herr hatte aber um ein Coupé gebeten, worin die junge Dame entweder allein oder in Damengesellschaft sei. Ein Coupé erster Classe, worin Damen fuhren, war nicht da. Der gefällige Beamte, – wahrscheinlich, er sagte es nicht, durch ein Trinkgeld gefällig gemacht – hatte der jungen Dame ein Coupé für sich allein gegeben, auch ihr sowohl, die sehr ängstlich, als dem Herrn, der sehr besorgt für sie gewesen, versprochen, unterwegs bis K., wo die Dame Gesellschaft erhalten werde, Niemanden zu ihr in das Coupé zu lassen. Der Beamte hatte sein Versprechen gehalten; gleichwohl besann er sich jetzt plötzlich, wie in K. aus dem Coupé der jungen Dame ein Herr gestiegen sei. Es war gerade in dem Momente geschehen, als Hertel ihm seinen Verlust mitgetheilt; er hatte deshalb nicht darauf geachtet, und es war ihm deshalb auch später in das Gedächtniß nicht zurückgekommen.

„Wie sah der Reisende aus?“ fragte ich den Beamten.

Er hatte ihn nur sehr flüchtig gesehen; die Gestalt hatte auf ihn den Eindruck eines elegant gekleideten Herrn gemacht, wie sie in den Coupés erster Classe zu reisen pflegen. Einen grauen Staubmantel und einen Bart hatte auch er nicht gesehen.

„War das Coupé der Dame weit von dem Coupé Hertel’s entfernt?“ fragte ich wieder.

Dem Beamten ging ein neues Licht auf.

„Beide Coupé’s hingen unmittelbar an einander. Der Waggon bestand aus vier Coupés zweiter, und einem Coupé erster Classe. Dieses befand sich hinten, an dem vierten Coupé zweiter Classe; in dem letzteren hatte Hertel gesessen.“

„Ist der Waggon hier?“

„Die ganze Wagenreihe ist in R.“

Auf der Stelle war mein Vorsatz gefaßt. Ich kehrte nicht nach Hause zurück, sondern fuhr zunächst mit dem ersten Zuge nach R. Hertel und der Bahnbeamte mußten mich begleiten. In R. führte der Beamte mich zu dem Waggon, in welchem Hertel gefahren war, und dieser erkannte ihn auch gleich wieder. In dem vierten Coupé zweiter Classe hatte Hertel gesessen; unmittelbar dahinter befand sich das Coupé erster Classe, in welchem die junge Dame gewesen war. Ich besichtigte sie genau. Die Thüren beider waren fünf Fuß von einander entfernt, und konnten auch von innen geöffnet werden, namentlich die des Hertel’schen Coupés. Zur Noth war in diesem das Fenster so groß, daß ein schlanker Mensch, ohne die Thür zu öffnen, hindurchsteigen konnte. War er draußen, so konnte er an dem Rande des Fensters, wie an dem festen Griff der Thür sich schwebend halten; er brauchte nicht einmal frei zu schweben, eine messingene Querstange unten an dem Wagen gab auch seinen Füßen einigen, wenn gleich geringen Halt. Hielt er sich einmal so, so konnte er, halb kletternd, halb sich schwingend, den Griff und den Rand der Thür des Coupés der Dame erreichen. Er hatte hier nicht nur einen ähnlichen Halt, wie an dem Coupé, das er verlassen, sondern auch, da er am Ende des Waggons war, den Vortheil, daß er an dem mit Stangen versehenen Rande desselben sich festhalten konnte. Er konnte dann von außen die Thür des Coupés öffnen, zur Noth auch hier wieder durch das Fenster steigen, das, wie der Beamte sich erinnere, bei dem warmen Wetter offen gelassen war.

Ich ließ einen gewandten Arbeitsburschen des Bahnhofes herbeikommen. Er mußte das Manoeuvre versuchen, aus dem Hertel’schen Coupé in das der Dame zu steigen, ohne die Erde zu berühren. Ich ließ Alles in den Stand setzen, wie es auf der Reise gewesen war, und der Bursch löste auch wirklich die Aufgabe. Er stieg durch die Fenster der beiden Coupés aus und ein, ohne daß die Thüren geöffnet waren; er konnte auch in seiner Lage beide Thüren öffnen. Ich ließ ihn das Manoeuvre wiederholen, während der Wagen auf den Schienen in Bewegung gesetzt wurde. Freilich wurde er nur langsam geschoben und alle Vorsichtsmaßregeln gegen ein Unglück getroffen. Der Bursch kam auch so aus dem einen Coupé in das andere; allerdings nur mühsam und ohne die Vorsichtsmaßregeln nur mit Gefahr. Auf der regelmäßigen Fahrt des Zuges war das Wagniß erst recht ein halsbrechendes; aber ein verwegener und gewandter Spitzbube kann für zwanzigtausend Thaler schon etwas wagen.

Das Räthsel des Verschwindens des Diebes war gelöst; wäre nur eben so leicht der Weg zu seinem Ergreifen aufzufinden gewesen. Zu allererst war die junge Dame zu ermitteln, zu welcher der freche Gesell in das Coupé eingedrungen war; sie mußte nothwendig nähere Auskunft über ihn geben können. In einem grauen Staubkittel, mit einem großen Barte war er in das Coupé eingestiegen; als eleganter Tourist, in grünem knappen Rock und mit glattem Gesichte hatte er es wieder verlassen. Das setzte Momente während seines Alleinseins mit der Dame voraus, die unzweifelhaft zu weiteren Spuren führen mußten; dabei war noch der Umstand bemerkenswerth, daß die junge Dame, von der man freilich nicht wußte, ob sie den Diebstahl erfahren, das Eindringen des Fremden zu ihr nicht bekannt gemacht, sogar geheim gehalten und selbst ihrer Tante nur als ein Geheimniß anvertraut hatte.

Die Ermittelung der jungen Dame aber hatte ihre Schwierigkeiten. Ihr Name, ihr Wohnort war unbekannt; sie war die Nichte der Madame Meier aus Hamburg, aber in Hamburg gibt es zwei- bis dreihundert Meier. Daß die Dame nach Baden-Baden gewollt, war nur sehr unbestimmt; doch ich hoffte in R. Nachricht zu erhalten, und erhielt sie auch, aber ohne dadurch weiter zu kommen. Die Sache schien sich im Gegentheile mehr zu verwickeln. Am vorgestrigen Morgen, ungefähr eine halbe Stunde vor Ankunft des Eisenbahnzuges, war auf den Bahnhof eine elegante Equipage mit zwei braunen Pferden gefahren. Ein schon etwas ältlicher Herr und eine sehr junge, blasse, kränklich aussehende Dame waren ausgestiegen. Der Herr hatte ein Billet, nur eins, für die erste Classe auf die ganze Tour des Zuges gelöst. Er hatte sich dann mit der Dame bis zur Ankunft des Zuges in den Wartesaal begeben, und sie dann zu den Wagen geführt, besorgt, daß sie ein Coupé für sich allein erhielt, sie in den Wagen gehoben, einen sehr zärtlichen Abschied von ihr genommen und an dem Wagen gestanden, bis der Zug abgefahren war. Darauf war er zu seinem Wagen zurückgekehrt, an welchem die Pferde nicht ausgespannt, und war sofort wieder abgefahren. Niemand hatte den Herrn, die Dame, den Kutscher, den Wagen und die Pferde gekannt oder sich erinnert, sie vorher gesehen zu haben. Weder der Herr noch die Dame hatten mit Jemandem gesprochen; auch der Kutscher nicht, und andere Bedienung hatte man bei dem Wagen nicht gesehen. Ich forschte zwar weiter, woher der Wagen gekommen und wohin er gefahren sei. Ueber jenes war sonderbarer Weise gar nichts zu ermitteln, wenigstens nicht sogleich. Nicht viel mehr ergab sich für das Wohin. Der Wagen hatte eine Seitenchaussee eingeschlagen, auf dieser war er aber nur bis zur zweiten Station geblieben; von da an war seine Spur verloren.

Ich selbst hatte sie bis dahin verfolgt; eine weitere Verfolgung

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