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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

Vor Allem muß es jeden gebildeten Arzt tief schmerzen, wenn man ihm, wie dies so oft, und geldsüchtigen Charlatanen auch ganz mit Recht, geschieht, Herz und Gemüth abspricht, wenn man ihn als unempfindlich für Anderer Leiden und Schmerzen, als abgehärtet gegen den Kummer seines Nächsten, als gefühllos bei den Klagen Kranker bezeichnet. Es muß dies gerade den Arzt um so tiefer schmerzen, weil dieser mehr als jeder Andere durch seinen Beruf darauf hingewiesen ist, Menschenfreund zu sein und seinen Mitmenschen Trost und Hülfe im Leiden zu schaffen. Es reicht deshalb durchaus nicht hin, um ein wirklich tüchtiger und berufener Arzt zu sein, die Höhe der Wissenschaft erstiegen zu haben, auch das Herz muß bei ihm auf dem rechten Flecke sitzen und vermöge der Menschenliebe und Menschenkenntniß muß er jedem Leidenden (leider nicht selten auf Kosten seiner Wahrheitsliebe) den passendsten Zuspruch zu gewähren nicht blos verstehen, sondern dazu auch jeder Zeit bereit sein, selbst wenn er dafür keinen Dank und Lohn zu erwarten hat. Mit Trauer erfüllt es mich deshalb, sehen zu müssen, wie heutzutage so oft schon ein gewöhnliches Savoir-faire und vivre bei eleganter oder origineller Kleidung und krummrückiger Artigkeit, selbst einen herzlosen Hohlkopf, mit und ohne Doctorhut, der aber die Schwächen seiner Patienten gut zu benutzen weiß, zum gesuchten und wohlhabenden Heilkünstler macht, während gebildete, menschenfreundliche, sich aufopfernde Aerzte am Hungertuche nagen.

Wüßten nur die Menschen, wie es im Innern eines gebildeten und gewissenhaften Arztes oft aussieht; wie er gar nicht so selten an seiner Kunst, an der Menschheit und dem Menschenverstande, an den unglückseligsten und doch unabänderlichen Verhältnissen vieler Patienten verzweifeln möchte; wie er sich über den immer mehr um sich greifenden, aller Vernunft Hohn sprechenden, ganz gemeinen Charlatanismus, sowie über den Aberglauben sonst gebildeter Kranken selbst krank ärgern könnte, und wie man ihm gar nicht so selten bei Behandlung selbst unheilbarer Kranken zu guter Letzt noch den Tod des Behandelten Schuld gibt, zumal wenn ein schließlich noch herbeigeholter Herr College die nicht ungewöhnliche Aeußerung thut: ja wäre ich nur früher geholt, wäre nur dieses oder jenes Mittel angewendet worden. Auch ist es für ihn sehr niederschlagend, wenn Patienten oder deren Angehörige hinter seinem Rücken oder nachdem die Krankheit schon ihre Höhe überstiegen hat und der Genesung zugeht, noch Heilkünstler niedern Ranges zu Rathe ziehen und diesen dann die Heilung zuschreiben. – Wie oft ist nicht der wissenschaftlich gebildete Arzt in Verlegenheit, sich und seinem Kranken eingestehen zu müssen, daß er die Ursachen vieler Beschwerden nicht zu ergründen im Stande sei. Um wie viel öfter noch steht er ohnmächtig vor dem erkannten Uebel und muß es von Tag zu Tag zum Verderben, vielleicht theurer Personen, wachsen sehen. Wendet sich eine schwere Krankheit zur Gesundheit, dann kann ein solcher Arzt höchstens die innerhalb unseres Körpers wirkenden Naturheilungsprocesse bewundern, sich nicht aber, wie dies gewöhnlich unwissende und eingebildete Heilkünstler, vorzugsweise aber Homöopathen thun, als rettender Engel mit seiner Heilmacht brüsten. Dagegen möchte er gar nicht so selten verzweifeln, wenn er Processe im kranken Körper, die gewöhnlich zum Heile auslaufen, durch unglückliche Umstände großes Unheil anrichten sieht, ohne daß er demselben wehren kann. – Wie schneidet es in das Herz des Arztes, wenn er der Eltern liebste Kinder durch Unvorsichtigkeit und Unwissenheit der Angehörigen gefährlich erkranken oder verkrüppeln oder gar dem Tode verfallen sieht, und wie lange tönt nicht das Wehklagen einer armen Familie in seinem Innern nach, welcher der einzige Ernährer, nicht selten in Folge zu spät gewordener passender Hülfe starb. Wie es aber einem Arzte zu Muthe ist, wenn er Stunden lang immer und immer wieder dieselben, zum größten Theile ganz ungegründeten Klagen über erkünstelte Beschwerden von hysterischen Frauen und hypochondrischen Männern ruhig und anscheinend theilnehmend anhören muß, das läßt sich nur fühlen, nicht mit Worten beschreiben. Wenn er ferner die Menschheit ihrer Unmenschlichkeit und Hartherzigkeit wegen verachten lernt, so findet er triftige Gründe dazu nicht etwa blos auf dem Schlachtfelde, in Zucht-, Kranken- und Irrenhäusern, sondern auch an der Wiege von kranken Kindern herzloser Mütter, am Sterbebette reicher, von lachenden Erben umgebener oder testamentloser Personen, am einsamen Krankenlager hülfloser Dienstleute u. s. f.

Daß der Arzt, eingedrungen in die tiefsten Familiengeheimnisse und Herzensangelegenheiten, oft nicht blos als Heilkünstler, sondern auch als Freund mit Rath und That bei der Hand sein soll, erschwert nicht selten seinen Beruf ganz entsetzlich. Wie viele bittere Stunden bereitet ferner manchem Arzte nicht die Eifersucht und zwar ebenso die von kränklichen Männern gesunder Frauen, wie die seiner eigenen Frau. Kurz der Arzt ist nach allen Richtungen hin ein armes geplagtes Menschenkind und es gehört sehr viel leichter Sinn, Eitelkeit oder Arroganz mit Ignoranz gepaart dazu, wenn er sich in seinem Berufe recht glücklich fühlen soll. Könnte er sich nicht zuweilen an dem Glücke, welches die Genesung um ihn verbreitet, erfrischen und aufrichten, er würde ohne Zweifel noch zeitiger zu Grabe getragen werden, als dies so schon der Fall ist. Von den oft rücksichtslosesten Ansprüchen der Patienten an den Arzt, sowie von dem Undanke Geheilter will ich ganz schweigen. – Jetzt zu unseren Kranken.

1. Die Wahnschwindsüchtige.

Mit abgehärmtem, bleichem Gesichte und ängstlicher Miene schleicht, einer armen Sünderin gleich, unter lauten und kurzen Athemzügen eine blonde magere Dreißigerin in’s Zimmer und wankend zum Sessel. Unter Thränen entringen sich ihrer Brust die Worte: für meine armen Kinder möchte ich noch eine Weile leben, geben Sie mir Trost und rauben Sie mir doch ja nicht alle Hoffnung, indem Sie mir geradezu in’s Gesicht sagen, wenn ich sterben muß.

Auf diese letzte Aeußerung hin erkläre ich: es gibt keine unsinnigere Idee als die, daß ein Arzt bei einem Kranken, zumal bei einem Brustkranken, die Zeit genau angeben könne, wenn der Tod eintreten wird. Und könnte er es wirklich, dann wäre es ja eine Inhumanität sonder Gleichen, wenn er dies den Kranken in’s Gesicht sagte und überhaupt denselben die Hoffnung auf Genesung raubte. Wohl kann aber ein wissenschaftlich gebildeter Arzt von manchen Uebeln genau wissen, daß sie unheilbar sind oder daß sie, jedoch nur allmählich und auch blos manchmal durch die Naturheilungsprocesse (bei richtigem diätetischen Verhalten), ganz oder teilweise wieder verschwinden. Die Natur hat schon viele Kranke geheilt, denen Aerzte das Leben oder die Rückkehr der Gesundheit abgesprochen haben.

Unsere Patientin berichtet weiter: ich bin brustkrank und vermuthe nach dem, was ich von meinen Aerzten gehört habe und was ich in Ems, Salzbrunn und Soden sah, daß die Lungenschwindsucht bei mir schon einen sehr hohen Grad erreicht haben muß. Denn ich huste viel und werfe zu Zeiten einen dicklichen Eiter aus, bin kurzathmig und leide an Brustbeklemmung, an Herzklopfen, fliegender Hitze und Nachtschweiß, kurz, ich finde Alles an mir, was in den Büchern über Lungenschwindsucht aufgeführt ist. Die Angst, meinen Angehörigen so bald schon entrissen zu werden, läßt mich keine Nacht ruhig schlafen und verscheucht allen Appetit zum Essen; natürlich fühle ich mich sehr matt und bin in letzter Zeit bleich und mager geworden.

Wollte man doch endlich einmal einsehen lernen, daß Brustkranke in ein Bad zu schicken, wo sie nur Schwindsüchtige um sich sehen und fortwährend deren Beschwerden hören müssen, sehr grauam ist und gewöhnlich mehr schadet als nützt, abgesehen davon, daß das Salzwasser, welches die Patienten dort trinken, gar keine besondere Heilkraft auf das Lungenleiden ausübt. Das, was der Brustkranke eigentlich braucht, nämlich: Ruhe, reine warme Luft (bei Tag und Nacht), Sonne und Milch, findet er auch wo anders als in den Schwindsuchtsbädern, von denen der Verfasser Salzbrunn am meisten haßt, weil hier der arme Kranke in der Frühe, anstatt hübsch im warmen Bette zu bleiben, in die kühle, der leidenden Lunge stets nachtheilige Morgenluft hinaus gejagt wird, um das unschuldige Mineralwasser zu trinken.

Alle von unserer Kranken geklagte Beschwerden (s. Gartenl. Jahrg. 1855. Nr. 15.) rechtfertigen die Befürchtung noch durchaus nicht, daß hier Lungenschwindsucht vorhanden sei; nur daß im Athmungsapparate eine Ungehörigkeit vorhanden, läßt sich daraus folgern. Denn alle die genannten Symptome können auch noch mehreren ganz andern Lungenleiden, ja sogar Uebeln, durch welche die Lunge nur beiläufig afficirt wird, zukommen. Ja ein großer Theil von den obigen Beschwerden könnte recht wohl nur die Folge der Angst vor der Schwindsucht, vielleicht auch des Medicinirens sein. Erst die Untersuchung des Brustkastens mittels Beklopfens und Behorchens macht das Erkennen dieser oder überhaupt einer Brustkrankheit möglich. – Bei genauer Untersuchung unserer Kranken fand sich denn auch wirklich gerade das Gegentheil von Lungenschwindsucht,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 265. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_265.jpg&oldid=- (Version vom 12.9.2022)