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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

die sich im Durchschnitt steigend um 4000 jährlich vermehren. In grader Ausdehnung von Norden nach Süden ist es 12 englische Meilen lang, von Westen nach Osten über 15 oder über drei deutsche Meilen. Eine Straße nach dem Norden hinlaufend (Tottenham Court Road) ist ziemlich ohne Ausnahme auf 25 Meilen Länge auf beiden Seiten von Häusern eingeschlossen, sie läuft von London aus durch mehrere Städte hindurch, ohne daß man einmal in’s Freie kommt. Unzählige andere Häuserstraßen laufen in ähnlicher Weise auch schon ohne Aufhören in andere Städte hinein. Die Häuser Londons in einer Reihe würden über ganz England hinweg, durch ganz Frankreich hindurch bis an die Pyrenäen reichen. Jetzt doppeln und durchwinden sie sich in 10,500 benannten Straßen, die nach Größe und Form die verschiedensten Gattungsnamen haben. Die 5000 Hauptstraßen, zusammen über 2000 englische Meilen lang, sind mit einem theuren Pflaster versehen. Es kostete 14,000,000 Pfund Sterl. und dessen Erhaltung erfordert jährlich 1,800,000 Pfund.

Um die 1900 Meilen langen Gasröhren für 4 Millionen Pfund jährlich stets gefüllt zu halten, daß sie die 360,000 Brenner speisen, müssen alle 24 Stunden 13,000,000 Cubikfuß Gas entwickelt werden. Ein anderes unterirdisches Adersystem trieb voriges Jahr 80,000,000 Gallonen Wasser durch die Küchen und Häuser Londons und durch ein drittes colossales Adersystem, die Kloaken wieder in die Themse. Neben diesen drei ungeheuren Adersystemen von Eisen und Stein laufen in manchen Straßen noch drei bis vier unterirdische Arterien von Telegraphendrähten. Dazu kamen die Tunnel’s der Stadteisenbahnen und deren steinerne Arterien und Brücken über die Häuser hin.

Die Bewohner Londons in einer dichten Doppelreihe hinter einander aufgestellt, würden einen 670 Meilen langen Zug darstellen und, drei Meilen in der Stunde zurücklegend, neun volle Tage und Nächte marschiren, ehe sie an uns vorbeikämen. Jeden Tag drängen sich über 125,000 Wagen und Instrumente aller Art auf Rädern durch die Hauptstraßen: 3000 Cabs (Droschken), über 1000 Omnibus, über 10,000 Lastwagen und Geschäftsvehikel der verschiedensten Größe und Bauart u. s. w. Von Außen bringen, natürlich ohne die Eisenbahnen, über 3000 Fahrzeuge auf Rädern Lebensmittel und Bedürfnisse in die Stadt.

Im Durchschnitt sterben 170 Menschen täglich, und alle fünf Minuten wird ein Londoner Kind geboren. Im Jahre 1856 starben in den 116 verschiedenen Armen- und Wohlthätigkeitsanstalten Londons 10,381 Personen – von 56,786, die überhaupt starben. Beinahe jede fünfte Person starb auf Kosten der Bevölkerung, ohne eigenen Heerd, ohne Heimath im letzten Stadium des Elends, denn nur im letzten, niedrigsten Stadium des Elends findet der gesunkene oder niedergetretene Mensch Aufnahme in einer öffentlichen Anstalt. Jede Nacht werden Tausende von den Thüren der Armen- und Arbeitshäuser weggetrieben (wenn sie nicht davor niederfallen), da kein Platz ist, schon deshalb oft nicht, weil die Thürsteher und Vorsteher oft ungemein dick und fett sind, und den meisten Raum und das meiste Geld einnehmen. Auch betrügen die höheren Vorsteher gern, wie z. B. vorigen Winter in einer großen Wohlthätigkeitsanstalt um blos 70,000 Sterling.

Im Durchschnitt ertrinken und ersäufen sich jährlich 500 Personen in der Themse. Die meisten Opfer dieser Art liefert die unglückseligste Classe der Näherinnen. Im vorigen Jahre wurden 143,000 Obdachlose der letzten Classe in Arbeitshäuser aufgenommen. Von Verbrechern sind polizeilich bekannt und notorisch: 107 Einbrecher und offene Räuber, 110 bloße Einbrecher, 38 Straßenräuber (auf offenen Stellen), 773 professionelle Taschendiebe, 3657 gemeine Diebe (und unübersetzbare „sneaksmen“, Schleicher, die Diebesgelegenheiten ausmitteln und gestohlenes Gut immer sofort bei Seite bringen), 11 Pferdediebe, 141 Hundediebe, 3 Falschmünzermeister, 28 einzelne Falschmünzer, 317 Verbreiter falschen Geldes, 141 „Schwindler“, 182 Betrüger („cheats“, ein bestimmtes Gewerbe), 343 Diebshehler, 2768 professionelle „Auflaufmacher“ („rioters“, um im Gedränge zu stehlen), 1205 Vagabunden, 50 professionelle Bettelbriefschreibanstalten, 86 gewerbliche Bettelbriefträger, 6371 Prostituirte von Profession und 470 unbestimmte Verbrecher. Letztere vagabundiren innerhalb der Verbrechergewerbe, die im Ganzen sich so streng geschieden halten, wie der strengste Gewerberath es nicht zu Stande brächte. Es ist Ehre und Classenstolz unter den 16,900 gewerblichen, der Polizei bekannten Verbrechern. Das geht so weit, daß ein Einbrecher oder Auflaufmacher bei dem ganzen „Stande“ in Verruf kommen würde, wenn er sich einmal so weit vergäße, dem gemeinen Taschendiebe in’s Handwerk zu pfuschen. Die activen Taschendiebe wieder sehen mit Verachtung auf ihre eigenen Gehülfen, die „sneaksmen“ herab, So geht das durch, selbst bis in die Classe der Prostituirten, von denen die Spaziergängerinnen bei Tage mit sittlichem Abscheu auf die Nachteulen herabblicken.

Das sind die notorischen, berüchtigten, polizeilich bekannten, weil eingefleischten Verbrecher. Die Zahl der Anfänger, gelegentlicher und sporadischer Verbrecher beiderlei Geschlechts ist nicht zu ermitteln. Die 16,900 Verbrecher erster Classe eignen sich jährlich im Durchschnitt 42,000 Pfund Sterling an, so daß sie sich im Ganzen mit etwa 20 Thaler jeder durch’s Jahr behelfen müssen. Man sieht, daß diese zahlreich vertretenen Gewerbe kein glänzendes Loos bieten, und die Meisten vom Drucke der oberen Gesellschaftsschichten dazu gedrängt werden. – Im Durchschnitt befinden sich 6000 von diesen 16,900 stets im Gefängnisse, so daß den „Freien“ deren Antheil an der Generalcasse allerdings gutgeschrieben werden muß. Letztere kosten der guten Gesellschaft jährlich 170,000 Pfund. Jeder „jugendliche“ Verbrecher, der aus Mangel an Erziehung, Brod und Halt zum Diebe u. s. w. wird, kostet in „Reformanstalten“ 300 Pfund. Wenn das Geld vorher für ihn disponibel wäre, würde er für 100 Pfund ein nützlicher Mensch, der vielleicht jährlich einige Pfunde produciren würde. Wie aber die weisen Einrichtungen jetzt sind, muß das Kind in Lumpen und Verwahrlosung erst zum Verbrecher werden, ehe die 300 Pfund für ihn angelegt werden können. Von den Bettlern sind 35,000, darunter zwei Drittel Irländer, professionell: etwa 150,000 singen und betteln blos gelegentlich auf den Straßen. Etwa 2000 davon karren in glücklicher Zeit mit Vegetabilien umher und schreien sie unbarmherzig aus, 4000 mit Eßwaaren und Flüssigkeiten, 1000 mit Schreibmaterialien u. s. w. Auch von den 70,000 Webern, 22,479 Schneidern, 30,805 Schuhmachern, 43,928 Putzmacherinnen, 21,210 Näherinnen, 1769 Damenhutmacherinnen, 1277 Mützenmacherinnen verfallen stets Massen noch tiefer unter Bettler, Verbrecher, Prostituirte, in die Themse oder in’s Grab.

London besteht aus zwei Welten mit einer ungeheuern Kluft dazwischen. In der einen leben die Armen, dicht und fest durch Elend, Schmutz und Ignoranz verbunden, in der anderen die wenigen, aber durch Geld, Vorrechte und Besitz allein Mächtigen, von denen ein Einziger viel mehr luxuriös ausgestatteten Raum hat, als in der anderen Welt Hunderte, ja Tausende zusammengenommen. Zur Charakteristik dieser andern Welt gehören folgende statistische Angaben. Die Münze schlägt im Durchschnitt jährlich 5 Millionen Pfund Gold, 130,000 Pfund Silber und nur 9000 in Kupfer. Die Bank von England mit 800 Beamten, die zusammen 190,000 Pfund Sterling Salaire bekommen, hat 25 Mill. Pfund in Banknoten circulirend. Der Hafen von London bringt jährlich 15,000,000 Pfund Zolleinkünfte. Nach einer Schätzung von Mac Culloch kommen jährlich für 70 Millionen Pfund Producte nach London. Die vermietheten Häuser bringen jährlich 15 Millionen Pfund Miethe. Nur zwei Fünftel davon sind versichert und zwar mit 170,000,000 Pfund. Das Capital der Londoner Banquiers ist auf 70,000,000 Pfund abgeschätzt worden. Im Jahre 1849 machte ein einziges Haus Geschäfte im Betrage von 30 Mill. Pfund. Im Zahl-Departement der Bank wurden im Jahre 1839 blos 954 Mill. Pfund eingeliefert. Dabei sind alle Zahlungen unter 100 Pfund ausgelassen.

Die Bevölkerung von London verzehrt jährlich 280,000 Ochsen, 30,000 Kälber, 11/2 Mill. Schafe, 35,000 Schweine, 1,700,000 Scheffel Weizen, 312 Mill. Pfund Kartoffeln, 90 Mill. Kohlköpfe, Fische in ungezählten Millionen, 3 Mill. Stück Geflügel, 1,300,000 Stück Wild, 80 Mill. Eier u. s. w. In und um London liefern etwa 14,000 Kühe den täglichen Bedarf an Milch. Außerdem gibt’s jeden Tag frische „Eisenbahnmilch.“ Dazu trinkt London jährlich 65,000 Oxhoft Wein, 2 Mill. Gallonen Spirituosen und 45 Mill. Gallonen Porter und Ale in 3700 Bierläden, 600 „Public“-Häusern und blos 13 Weinlocalen.

Das größte Wunder ist, daß eine so ungeheure Menschenmasse mit Elend und Verbrechen aller Art von 6500 Policemen, die zusammen nur 380,000 Pfund kosten, in Ordnung gehalten wird. Das Geheimniß dabei ist, daß man diese ungeheuren Massen politisch, religiös, gewerblich und auch in allen möglichen, nicht zu starken Polizeiwidrigkeiten ungeschoren läßt. So sind sie

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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 347. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_347.jpg&oldid=- (Version vom 11.9.2022)