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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

auch, um eine Unterstützung zu erhalten oder einen Rath zu begehren. Dieses wäre der Anlaß seines letzten Besuches gewesen; er habe die Absicht gehabt, auszuwandern, dazu hätten ihm jedoch die Mittel gefehlt. Sie selbst,“ fuhr Frau von P. fort, „habe mehr den Wunsch und die Neigung, als ausreichende Mittel besessen, ihm so zu helfen, daß er vor weiterer Lebenssorge bewahrt würde.“

Alles, was Frau von P. sagte, machte den Eindruck der vollsten Wahrheit; die tiefe Bewegung, mit der sie sprach, und welche sie vergeblich zu bemeistern suchte, verstärkte diesen Eindruck noch. Das Verhältniß einer von der Welt zurückgezogenen, mildthätigen Dame zu einem etwas verwahrlosten und manchen Versuchungen ausgesetzten jungen Proletarier hatte an sich nichts Befremdliches.

„Ich wünsche noch von Ihnen zu wissen, gnädige Frau,“ nahm der Staatsanwalt das Wort, „ob der Angeklagte vielleicht durch Sie, oder mittelbar durch die Anwesenheit in Ihrem Hause, von den Verhältnissen und der häuslichen Einrichtung Ihres Gemahls in Kenntniß gesetzt wurde?“

„In keiner Weise,“ lautete die Antwort, „niemals war von der Person oder den Verhältnissen meines verstorbenen Mannes die Rede.“

„Und Sie haben keine Vermuthung darüber, daß der Angeklagte mit Ihrem verstorbenen Gemahl bekannt gewesen sei?“

„Ich bin vom Gegentheil überzeugt.“

Der Staatsanwalt wandte sich zum Angeklagten: „Weshalb sind Sie erst im letzten Augenblicke mit der Angabe hervorgetreten, daß Sie bis nach eilf Uhr in der Behausung der Frau von P. waren?“

„Ich wollte der Dame, die immer sehr gütig gegen mich war …“

Er wollte offenbar sagen, daß er ihr die Behelligung, für ihn gerichtliches Zeugniß abzulegen, habe ersparen wollen; aber er konnte den Satz nicht vollenden, er mußte schluchzen, wie ein Kind. Und Frau von P.? Wieder ging das leise Zittern durch ihren Körper, das ich bei der ersten Begegnung in der Sterbewohnung bemerkt hatte, sie legte ihre Hände auf den Rand des vor ihr stehenden Tisches, aber die zitternde Bewegung war dennoch sichtbar.

Der Vorsitzende erhob sich. „Ich werde zu Ihrer Vereidigung schreiten,“ sprach er zu Frau von P.; „sind Sie bereit, die Richtigkeit Ihrer Aussage durch einen Eid zu bekräftigen?“

„Ich bin bereit!“ antwortete sie, und schien ihre Fassung wiedergewonnen zu haben.

Noch im letzten Augenblick nahm der Staatsanwalt das Wort.

„Ich erlaube mir, den Herrn Präsidenten darauf aufmerksam zu machen, daß vergessen worden ist, der Zeugin die allgemeinen Zeugenfragen vorzulegen und sie darauf hinzuweisen, daß auch die Antworten auf diese Fragen eidlich bekräftigt werden müssen.“

„Der Herr Staatsanwalt hat vollkommen Recht, ich habe dies übersehen,“ sprach der Vorsitzende. „Frau von P., Sie haben zunächst die folgenden Generalfragen zu beantworten; die wissentlich unrichtige Beantwortung einer dieser Fragen zieht gleichfalls die Meineidsstrafen nach sich. – Sie haben mich doch verstanden?“

Frau von P. hatte der Eröffnung, die ihr gemacht wurde, mit einem so fremdartigen Ausdrucke des Gesichts zugehört, daß die Frage des Präsidenten nur zu natürlich war. Er wiederholte seine Frage. Sie schien den Kopf zum Zeichen der Bejahung zu neigen.

„Sind Sie verwandt oder verschwägert mit dem Angeklagten?“

Eine flammende Röthe zog über das todtenbleiche Antlitz – verschwand aber eben so schnell, um einer Blässe zu weichen, welche schon an die erdfahle Todtenfarbe erinnerte. Sie neigte sich nach vorn über, bewegte etliche Male schnell hintereinander die Lippen, ohne einen Laut hervorzubringen, blieb dann mit geöffnetem Munde stehen, und ehe noch Jemand zu ihrem Beistände herzueilen konnte, war sie mit einer zuckenden Bewegung der Hände nach ihrem Herzen hinten über gestürzt, und lag leblos am Boden.

Man hob sie sofort auf, Alles beeiferte sich, ihr beizustehen. Frau von P. wurde von zwei Frauen in ein Nebenzimmer getragen, ein Arzt herbeigerufen und die Sitzung abermals auf eine Stunde unterbrochen. Der Präsident ordnete die Zurückführung des Angeklagten an –, dieser schien kaum zu wissen, was um ihn vorging.

Nach einer Stunde begann die Verhandlung wieder. Der Angeklagte wurde herbeigeführt. Er war in einen, bejammernswerthen Zustande, zwei Gerichtsdiener mußten ihn führen, so schüttelte ihn das Fieber. Der Arzt, welcher zum Beistände der Frau von P. herbeigerufen worden war, trat ein.

„Hat sich Frau von P. so weit gefaßt,“ fragte der Präsident, „daß ihre Vereidigung nunmehr ohne Gefahr für ihre Gesundheit erfolgen kann, oder hat sie sich von ihrer Ohnmacht noch nicht hinlänglich erholt?“

„Ich bedauere, Herr Präsident, darauf antworten zu müssen,“ erwiderte der Arzt, „daß von dem Erscheinen der Frau von P. überhaupt nicht die Rede sein kann, geschweige denn von ihrer Vereidigung. Die Dame ist von einem Nervenschlage getroffen, und wird vielleicht niemals wieder des Gebrauchs der Sprache mächtig werden. Ich bitte, mich sofort zu entlassen, denn meine Anwesenheit bei der Kranken ist dringend erforderlich.“

Ohne eine weitere Frage abzuwarten, entfernte er sich nach dem Zimmer, in welches man Frau von P. getragen hatte.

„Es bleibt uns sonach nichts übrig,“ sprach der Vorsitzende, „falls nicht der Herr Staatsanwalt anderweite Anträge stellt, als die heutige Sitzung aufzuheben, und den Beschluß über die Verhandlung vorzubehalten.“

„Ich bin damit einverstanden,“ bemerkte der Staatsanwalt, „aber ich will noch eine Frage an den Angeklagten richten.“

Der Staatswalt trat zu ihm, er legte die Hand auf seine Schulter und sprach mit ernstem, eindringlichem Tone: „Ludwig, geben Sie der Wahrheit die Ehre, sagen Sie uns, in welchem näheren Verhältnisse stehen Sie zur Zeugin?“

Der unglückliche Mensch konnte die Last, die auf seinem Herzen lag und ihn zu ersticken drohte, nicht länger ertragen, mit dem Jammergeschrei des verzweifelnden Schmerzes brach er zusammen und schrie, während er von Fieberschauern geschüttelt wurde: „Meine Mutter! Meine Mutter! Ich habe sie umgebracht!“


Die Sitzung war aufgehoben und Frau von P. nach ihrer Behausung gebracht worden. Auch der Angeklagte war so bedeutend erkrankt, daß er aus dem gerichtlichen Gefängniß nach einer Krankenanstalt geschafft werden mußte.

Die Staatsanwaltschaft hielt es für ihre Pflicht, das Verhältniß zwischen dem Angeklagten und der Wittwe aufzuklären. Zwar führte Ludwig *** einen andern Familiennamen, als den der Frau von P., auch wiesen die polizeilichen Acten nach, daß derselbe der Sohn einer armen Uhrmachersfrau aus einem thüringischen Städtchen sei, – indessen diese Angaben konnten absichtlich und zur Verdunkelung der wahren Sachlage gemacht worden sein. Der mit der ganzen Untersuchung vertraute Polizeibeamte begab sich an Ort und Stelle, und es gelang ihm, vollständigen Aufschluß zu erhalten. Folgendes ist die Geschichte der Wittwe des Kriegsraths.

Louise von P. war, um eine standesmäßige Ausbildung zu erhalten, wie man sie für Töchter höherer und adeliger Beamten für nothwendig erachtet, nach einer kleinen mitteldeutschen Residenz geschickt worden, in welcher sich damals die Pensions- und Erziehungsanstalt zweier ältlichen Schwestern eines besondern Rufes erfreute. Louise hatte die Schulen ihrer Vaterstadt besucht und bei guten Anlagen mehr als gewöhnliche Kenntnisse erworben. Sie sollte sich in der höhern Anstalt noch den „feineren Schliff“ und die für unentbehrlich gehaltenen Sprachkünste aneignen. So war sie beinahe fünfzehn Jahre alt, als sie in die Pension eintrat. Von Natur zur Schwärmerei geneigt und in sich gekehrt, blieb sie im Institut gänzlich auf sich angewiesen, da die übrigen Zöglinge fast sämmtlich jünger waren, als sie, und sich schwer an das scheue, einsilbige Mädchen anschlossen, welches immer etwas „Apartes“ hatte, wodurch sich die jüngeren Genossinnen abgestoßen fühlten. Die Anstalt war nach dem herkömmlichen Maßstabe, mit dem man solche Institute zu beurtheilen pflegt, eine vorzügliche, das heißt, sie leistete alles Dasjenige, was für die Dressur äußerlicher Bildung irgend verlangt werden konnte. Alles Uebrige gehörte nicht zum Pensum der Anstalt. An die Stelle einer auf die Kräftigung und Veredelung des Gemüthslebens zielenden Einwirkung war die Begünstigung des Hanges zur Romantik getreten, welche damals Mode war. In dieser Umgebung, unter diesen Einflüssen hatte Louise fast ein Jahr lang gelebt. In den Unterrichtsstunden kam sie allen Anforderungen der Lehrerinnen pünktlich nach. Im Uebrigen wußte sie sich eine ziemlich große Freiheit zu bewahren, welche ihr selbst so weit nachgesehen wurde, daß sie Stunden lang allein in der Umgegend umherstreifen konnte. Ihre körperliche Entwicklung

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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 350. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_350.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)