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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

Govéan aber wollte durch dieses Anrücken die Leute nur forttreiben, zur Flucht zwingen, während er seinen Grenadieren befahl, einige junge Bursche zu fangen und festzuhalten. Sobald die Unglücklichen merkten, daß sie fliehen dürften, liefen alle, die nicht mit Gewalt zurückgehalten wurden, athemlos hinaus in’s freie Feld, ohne sich umzusehen. Sieben junge Bursche allein waren gefangen genommen worden und sie wurden zurückgetrieben auf den früheren Platz, den Angstplatz. „Was in ihrem Innern vorgegangen, kann keine Beschreibung darstellen, keine Sprache aussprechen, keine menschliche Vorstellung fassen. Sie fielen in heißer Todesangst zur Erde nieder; Einer umfaßte mit flehender Geberde die Kniee des Capitains.“

„J’avançai moi-meme entre eux et les grenacliers (ich selbst trat vor zwischen sie und die Grenadiere),“ schreibt Govéan, „dann ließ ich laden und anschlagen. Schossen meine Grenadiere so, wie ich es von ihnen erwartete, so war alles gut; schossen sie anders, nun so fiel ich mit den Unglücklichen, vor denen ich stand und die ich zu retten suchte; die Subordination aber, der Stolz der französischen Armee, blieb jedenfalls unverletzt. Und nun mit einer Bewegung des Säbels commandirte ich: „Feuer!“

Die Grenadiere schossen über ihren Capitain – wie er es erwartet hatte – und über die hinter ihm Knieenden hinweg. Niemand wurde verletzt. Unmittelbar nach der Salve und ehe noch der Pulverdampf sich verzogen hatte, commandirte Govéan rasch: „rechts um kehrt!“ führte, ohne sich aufzuhalten, seine Compagnie nach Naumburg zurück und meldete dort ordnungsgemäß: „die Ordre ist vollzogen.“

Die unglücklichen Sieben, die den Tod so nahe an sich gesehen hatten, wußten nicht, wie ihnen geschehen war, da keine der Kugeln sie getroffen hatte, die Franzosen aber sich entfernten. Lange vermochten sie nicht zu fliehen, kaum aufzustehen und zu gehen. Langsam gelangten sie an einen großen wilden Birnbaum, unter dem ein wildverwachsener Dornenbusch stand. Unter diesem Busche fand endlich Einer der Geretteten, der Sohn des Schullehrers Baum, Worte. „Laßt uns niederfallen,“ sagte er zu den Anderen, „und ein andächtiges Vaterunser beten dafür, daß der liebe Gott uns errettet hat.“ Und die sieben jungen Bursche knieten neben einander nieder und beteten, während hinter ihnen die Flammen in dem Dorfe prasselten.

Auf dem „Angstplatze“ wurde später ein einfaches Denkmal errichtet und alljährlich am 16. Octbr. erinnert eine einfache Feier an jene Rettung, ohne daß man bisher mit Bestimmtheit wußte, wem man dieselbe eigentlich verdankte und warum sie erfolgte. Von jetzt an wird man ganz besonders der echten Mannesthat Govéan’s gedenken, der in seinem Briefe an Großmann also schließt:

„Gern hätte ich von dem nicht gesprochen, was ich selbst in jener unglücklichen Episode gethan habe, aber es war nicht zu vermeiden, da ich berichten mußte, was und wie es geschehen ist. Das freundliche Andenken an eine ganz natürliche That der Menschlichkeit rührt mich tief und ich wünsche mir nun doppelt Glück über mein damaliges Verhalten. … Der Commandant Guigner de Revel, der in Chambery geboren war, starb fünf bis sechs Monate nach jenem Vorgänge zu Thorn an der Weichsel und der Lieutenant Sico, ein Piemontese, verschied vor jetzt etwa fünfzehn Jahren in Metz. Ich selbst stehe am Ende einer langen militairischen Laufbahn, in welcher ich alle Leiden und Schrecken, die der Krieg mit sich bringt, in der Nähe gesehen und oft Gelegenheit gehabt habe mich zu überzeugen, daß er auch zu nutzlosen Härten führt etc. … George Antoine Augustin Govéan, ehemals Capitain der Grenadiere des III. Linienregiments, jetzt pensionirter Oberst vom 13. Linienregimente.“

Diezmann.




Aerztliche Strafpredigten.
Nr. IV.
Gegen daß Nichtuntersuchen und das Nichtuntersuchtseinwollen der Patienten.

„Nein! ich lobe mir einen homöopathischen Arzt, der ist doch sauber und appetitlich, fühlt mir höchstens nach dem Pulse und besieht allenfalls meine Zunge, Sie greifen aber gleich überall hin und Alles an und wollen sogar nach Allem sehen.“ So sprach eine Dame zu mir, und glaubte mich recht tüchtig abgetrumpft zu haben, während sie mir doch gar nichts Schmeichelhafteres sagen konnte. – Denn, das merke sich der Leser, nur der ist ein wirklich wissenschaftlich gebildeter und gewissenhafter Arzt, welcher nicht nur die Kranken selbst, sondern auch die Stoffe, welche dieselben von sich geben, genau untersucht. Hierzu ist ihm aber die Hülfe der physikalischen und chemischen Untersuchungsmethode (das Besichtigen, Befühlen, Beklopfen und Behorchen), so wie das Mikroskop ganz unentbehrlich. – Der Patient, welcher sich der nöthigen ärztlichen Untersuchung nicht unterwirft, ist ein thörichter, gewissenloser Mensch, dem sein Leben und seine Gesundheit nichts gilt. Dieser Vorwurf trifft am meisten Frauen, besonders aus höheren Ständen, die aus ganz unangebrachter Prüderie oder sogen. Schamhaftigkeit dem Arzte im Zimmer kaum den verhüllten Körper zu beklopfen und zu behorchen erlauben, während sie sich doch gar nicht geniren, auf Bällen vor den Augen Vieler zum großen Theile unverhüllt zu erscheinen. Wie viele Jahre leiden nicht manche, der Untersuchung sich widersetzende Frauen, trotz ihrer öfteren, kostspieligen und doch ganz erfolglosen Badereisen und Curen, bei gewissen Krankheiten ganz entsetzlich und werden aller Lebensfreuden und Hoffnungen verlustig, ja lassen nicht selten den Keim des Todes in sich allmählich aufkommen, obschon sie bei genauer Untersuchung und richtiger örtlicher Behandlung in einigen Wochen vollständig geheilt sein könnten.

Schmach und Schande über solche Aerzte, welche des leidigen Gewinnes und der Bequemlichkeit wegen oder überhaupt aus irgend welchen Rücksichten Patienten, besonders aber Patientinnen (was immer für eines Standes) ununtersucht, auf gut Glück hin behandeln. Meine tiefste Verachtung aber hiermit den Aerzten, welche Kranken, ohne sie je gesehen zu haben, brieflich ärztlichen Rath ertheilen. Leider gibt es selbst unter den promovirten Heilkünstlern solche gewissenlose, der öffentlichen Verachtung werthe Wichte, die schon auf die blos vom Patienten bemerkbaren, niemals zur Erkennung des Uebels hinreichenden Krankheitserscheinungen hin par distance Curen unternehmen. Ich begreife nicht, wie in Staaten mit gesundheitspolizeilichen Einrichtungen derartige subtile Todtschläger, die nebenbei sehr oft mit ihrer Charlatanerie den Armen ihr sauer erworbenes Geld aus der Tasche stehlen, geduldet, ja hier und da sogar begünstigt werden können. Denn daß es zur Zeit noch solche unvernünftige Menschen geben sollte, welche behaupten könnten, zur richtigen Behandlung einer Krankheit sei eine durch genaue Untersuchung des Kranken erlangte Kenntniß vom Sitze und von der Beschaffenheit des Uebels entbehrlich, das mag ich zur Ehre des Menschenverstandes nimmer glauben. Geben sich doch sogar manche der aus dem Heilen ein Geschäft machenden, ganz unwissenschaftlichen Laienblödsinnsmediciner, nämlich Homöopathen, geradezu ihrem homöopathischen Principe zum Hohne, den Anschein, als ob sie gerade so wie die wissenschaftlich gebildeten Aerzte ihre Kranken untersuchten. Ich sage, sie geben sich den Anschein, denn könnten sie wirklich untersuchen, dann wären sie keine Homöopathen, weil sie die Homöopathie verachten müßten.

Einige Fälle aus dem praktischen Leben mögen das Gesagte bekräftigen. – Ein seit Jahren Schwerhöriger mit Sausen vor den Ohren hat sein Leiden, nach der Aussage seines Arztes, in Folge von Blutandrang (Congestionen) nach dem Kopfe; es wird ihm deshalb gehörig Blut abgezapft, der Darmcanal (um vom Kopfe dahin abzuleiten) tüchtig auspurgirt und die Kost immer mehr geschmälert. Als endlich der gerade noch wie früher leidende Patient, durch die Cur bleich und mager geworden, selbst auf die Idee kommt: „jetzt habe ich ja bald gar kein Blut mehr, was nach meinem Kopfe dringen kann“, und deshalb andere ärztliche Hülfe sucht, ergibt sich bei Untersuchung des äußern Gehörganges, daß ganz hinten in demselben, dicht vor dem Trommelfelle ein Pfropf von eingetrocknetem Ohrenschmalze sitzt. Nach Entfernung desselben konnte Patient gut hören, und das Summen vor den Ohren war weg. – In einigen andern, ebenfalls leicht zu heilenden Fällen


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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 399. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_399.jpg&oldid=- (Version vom 26.12.2022)