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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

„Nicht blos hier, mein Herr, überall. Es heißt, solche Menschen seien nun einmal unentbehrlich; man müsse unter zwei Uebeln das kleinere wählen.“

„Und die empfiehlt man sogar Fremden?“

„Das weiß ich nicht. Aber der Herr Polizeipräsident wird ihn Ihnen nicht empfohlen haben.“

„Nein, Madame.“

„Auch der Herr Polizeidirector nicht.“

„Auch er nicht.“

„Könnten Sie mir vielleicht anvertrauen, wer? Mein seliger Mann hat mir manche Persönlichkeiten der hiesigen Polizei geschildert.“

Der alte Herr besann sich, ob er antworten solle. In dem Augenblicke schlug es zwölf Uhr.

„Nachher, nachher, Madame, jetzt habe ich keine Zeit!“ drängte er kurz und gut die Frau zur Stube hinaus.

Er begab sich auf den Posten, den ihm Herr Henne angewiesen hatte. Er sah scharf genug nach der bezeichneten Straßenecke; er sah lange und unverwandt hin; aber den gesuchten jungen Mann entdeckten seine Augen nicht, weder allein, noch am Arme eines hübschen Mädchens. Nach einiger Zeit kam auch Herr Henne wieder zurück.

„Das war für heute nichts, Herr Ehrenreich.“

„So scheint es.“

„Man muß morgen Mittag hier und zugleich am Spittelmarkte aufpassen; ich werde es besorgen.“

„Thun Sie das. – Herr Henne, was ist denn ein Polizeivigilant?“

„Ein Polizeivigilant, Herr Ehrenreich?“

„Ich fragte danach.“

„Der klügere Theil eines Polizeibeamten.“

„Und ein Spitzbube?“

„Ein vormaliger.“

„Gottes Wunder!“

„Der sich gebessert hat, der zur Einsicht gekommen, ein ordentlicher Mensch geworden ist –“

„Und nun hilft, auch andere Leute auf den Pfad der Tugend zurückzuführen?“

„Richtig, Herr Ehrenreich; Sie scheinen genau unterrichtet zu sein. – Haben Sie mir noch etwas zu sagen?“

„Ich wüßte nicht.“

„So empfehle ich mich Ihnen.“

„Sie kommen doch morgen wieder?“

„Frühzeitig.“

Der Polizeivigilant entfernte sich.

„Frühzeitig!“ murmelte der Herr Ehrenreich hinter ihm her; „frühzeitig! Der Schuft sprach das Wort so sonderbar aus. – Pah, wenn er mir geholfen hat, kann er mir gestohlen werden; er weiß jetzt, daß ich ihn kenne.“ Er verzehrte darauf sein Mittagessen, das ihm die Frau Rohrdorf brachte.

„Madam, um vier Uhr bringen Sie mir zwei Tassen Kaffee; ich bin es so gewöhnt.“ Um vier bekam er zwei Tassen Kaffee.

„Madame, um sieben Uhr nehme ich mein Abendbrod, wie gestern, nichts mehr und nichts weniger, zu mir; dann brauchen Sie sich vor morgen früh sieben Uhr nicht weiter um mich zu bekümmern.“

Er erhielt zur bestimmten Zeit sein Abendbrod; die Frau mußte sich aber doch noch früher, als am andern Morgen sieben Uhr um ihn bekümmern.

Er hatte den Nachmittag mit Schreiben und Durchsehen seiner Papiere zugebracht. Mitunter war er in seine Schlafstube gegangen, um nach der von dem Polizeivigilanten ihm bezeichneten Straßenecke zu sehen; dies setzte er fort, bis es dunkel wurde. Nachdem er sein Abendbrod verzehrt hatte, arbeitete er noch eine Zeitlang, und um zehn Uhr legte er sich zu Bette. Vorher verschloß er vorsichtig die äußeren Thüren aller seiner drei Stuben; die Schlüssel aber ließ er inwendig in den Schlössern stecken, mit einer Art Genugthuung, als wenn er nun sicher sei, da die Thüren durch Nachschlüssel von außen nicht geöffnet werden könnten; die inneren Verbindungsthüren der Stuben legte er blos in ihr Schloß.

Besonders vorsichtig untersuchte er zuletzt den Verschluß des in der Schlafstube neben seinem Bette stehenden Kleiderschrankes, in welchem er bei seiner Ankunft das kleine, schwere Kästchen verschlossen hatte.

Der Schrank war fest zu; zum Ueberflusse überzeugte er sich noch, daß er den Schlüssel in seiner Westentasche führte. Die Weste hing über einer Stuhllehne unmittelbar vor seinem Bette.

Bald darauf schlief er ein, sollte aber auch bald wieder zu einem Abenteuer erwachen. Ein Geräusch weckte ihn und dauerte noch fort, als er plötzlich aus dem Schlafe auffuhr. Aber er gehörte zu den Menschen, die sofort im ersten Augenblicke des Erwachens noch keine klare Besinnung haben; diese kommt ihnen erst nach und nach; sie können sich deshalb auch von dem, was sie bis dahin gesehen oder gehört haben, keine Rechenschaft geben. So schien ihm nur das Geräusch, welches er hörte, in seiner Schlafstube zu sein, gar in der Nähe des Bettes. Weiter wurde ihm nichts klar, weder die Art des Geräusches, noch der Gegenstand, durch welchen oder an welchem es hervorgebracht wurde. Während er schnell seine Besinnung sammelte und im Bett sich aufrichtete, um zu horchen, wurde mit einem Male Alles still. Er hörte nicht das Geringste mehr, keinen Athemzug, kein Knistern eines Sandkörnchens, und konnte meinen, geträumt zu haben; er meinte das in der That. Es war in der Stube stockfinster; zu seinen „Gewohnheiten“ gehörte es auch, wie er sagte, in möglichst tiefer Dunkelheit zu schlafen. Er hatte daher nicht nur kein Nachtlicht brennen lassen, sondern auch die Vorhänge dicht vor die Fenster gezogen; so sah er auch in der Stube nichts. Nachdem er eine ziemliche Weile in die Stille hineingehorckt und in die Finsterniß hineingestarrt hatte, wollte er sich wieder hinlegen. Vorher nahm er seine Uhr, die auf dem Nachttische lag, dicht vor ihm an dem Kopfende des Bettes, und ließ sie repetiren; sie schlug zwölf Uhr und drei Viertel. Er dachte unwillkürlich an den Polizeivigilanten Henne, der mit so sonderbarem Ausdrucke ihm versprochen hatte, frühzeitig am Morgen wieder bei ihm zu sein. „Es wäre verteufelt früh!“ sagte er für sich. Indeß er hörte nichts weiter und legte sich wieder hin. Das „verdammte“ Wort: „frühzeitig“ ging ihm jedoch unaufhörlich im Kopfe herum, und er mußte immerfort horchen. Er hörte immer nichts und meinte doch immer, etwas hören zu müssen. Zuletzt, um seiner Sache ganz gewiß zu sein, kam er auf einen Einfall. Er stellte sich, als wenn er schlafe, und ahmte den schweren Athem eines Schlafenden nach, anfangs leise, dann nach und nach stärker, endlich schnarchte er. Auf einmal hörte er, mitten durch das Schnarchen, wieder ein Geräusch; es war am Fußende seines Bettes, dort wo der verschlossene Kleiderschrank stand. Er hörte eine Bewegung, als wenn Jemand leise auftrete; weiter hatte er nichts gehört; entweder hatte keine andere Bewegung stattgefunden, oder er hatte zu laut geschnarcht. Er beendigte nun seine schweren Athemzüge. In demselben Augenblicke hörte er auch gar nicht mehr. Rasch griff er nach seiner Weste, die auf dem Stuhle vor seinem Bette hing. Die Weste war noch da; er fühlte in die Tasche nach dem Schlüssel des Schrankes; der Schlüssel war fort.

„Donnerwetter!“ rief er laut.

Mit einem Satze sprang er zum Bette hinaus. Allein, wie muthig und unerschrocken der kleine, runde, alte Herr auch sein mochte, es war in der Stube stockfinster, und sein erster Sprung war daher – wohl nicht ohne Recht – zu dem Tische unter dem Spiegel, gegenüber dem Bette, wo das Licht stand, das er beim Schlafengehen ausgelöscht hatte, und neben dem Lichte eine Büchse mit Zündhölzern. Er griff nach den Zündhölzern, strich eins davon an der Wand und warf es weg, indem es nicht brannte. Er nahm darauf ein zweites und strich damit; es brannte aber eben so wenig, wie das erste.

„Verdammte Stadt des Lichts und der Aufklärung!“ rief er.

„Nicht einmal ordentliche Zündhölzer haben sie hier. Wie wird dieses Nest noch obscur werden!“

Mit einem vierten Hölzchen erst zündete er die Stearinkerze an. Dann sah er rasch in den ganzen Stube umher, bemerkte aber nichts Verdächtiges.

„Zum Teufel, wo steckt der Kerl?“

Waffen schien der alte Herr nicht bei sich zu führen; aber sein gutes, derbes spanisches Rohr stand an dem Tische. Er nahm es und begab sich damit auf die Wanderung zum näheren Nachsuchen; eilte dann zuerst an den Schrank, fand ihn aber verschlossen; blickte in jede Ecke der Stube, fand aber nichts darin; hinter jede Gardine vor den Fenstern, und fand nichts dahinter; leuchtete endlich auch unter die Bettstelle, es war ebenfalls leer darunter. „Der Kerl wird sich doch unterdeß nicht in mein Bett gelegt haben!“ Er hob, nicht ohne Vorsicht, die Bettstücke auf, unter und auf denen er gelegen hatte; das Bett war leer. „Gehört habe ich etwas, darauf schwöre ich!“ Er untersuchte die Thüren der Stube;

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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 411. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_411.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)