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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

Zeugniß ab, daß im ganzen Laufe seiner dreijährigen Thätigkeit erst zwei Bewohner der Anstalt heimlich entwichen seien. Auf einem zweiten Hofe, den wir zu passiren hatten, lag die Todtenkammer. Wir sahen hier einen einfachen Holztisch, auf welchem die Sectionen der Leichen vorgenommen werden. In einem Winkel standen zwei ärmliche, schwarz angestrichene Särge, welche die sterblichen Reste zweier Todten enthielten, die heute noch begraben werden sollten. Sie hatten ausgerungen, ein Leben voll Elend mit Jammer beschlossen; bald werden sie in der kühlen Erde auf dem Armenkirchhof ruhen. Nicht der Tod, sondern das Leben unter solchen Verhältnissen ist das Schrecklichste.

Neben der Leichenkammer befindet sich eine Vorrichtung zum Reinigen der Kleider. Dieselben werden einem hohen Wärmegrade ausgesetzt, um durch die Hitze alle ansteckenden Stoffe, durch welche sie oft verunreinigt sind, zu entfernen. Die Operation wird natürlich von einem mephitischen Geruch begleitet. Dieser, so wie die Ausdünstungen der Todtenkammer, welche sich in der Nähe des Lazareths befindet, sind ein großer Uebelstand für das letztere und gaben dem Arzte mit Recht Veranlassung zu Beschwerden. Leider erlaubt es die Lage der Anstalt und ihre Mittel nicht, diese Uebelstände zu beseitigen, obgleich eine schleunige Abhülfe dringend Noth thut. In den Krankenhäusern selbst herrscht der größte Grad von Reinlichkeit; die Bettstellen sind von Eisen und jeder Patient hat seine Matratze und eine warme wollene Decke. Hier werden nur solche unheilbare Kranke vorgenommen, welche durchaus keine Mittel haben, sich in eine andere Anstalt aufnehmen und verpflegen zu lassen. Wahrhaftes Mitleid flößte uns ein geschickter Mechanikus ein, der an Händen und Füßen gelähmt hülflos an sein Lager gefesselt war. Er gehörte einer angesehenen Familie an, deren Name in der gelehrten Welt als geachtete physikalische Arbeiter einen guten Klang hat. Er selbst war durch sein Mißgeschick so sehr heruntergekommen, daß er im Arbeitshause eine Zuflucht suchen mußte, wo er wohl bis zu seinem Ende bleiben wird. Noch schrecklicher schien uns das Loos jener unglücklichen, alten Frau, deren Gesicht und Augen bereits vom unheilbaren Krebse entsetzlich zerstört waren. Sie saß, von fürchterlichen Schmerzen gepeinigt, halb aufrecht in ihrem Bette, das Antlitz mit einem dunkelbraunen Tuche verhangen, um den Uebrigen den scheußlichen Anblick zu entziehen. Auf demselben Flur besuchten wir die Kirche der Anstalt, worin der angestellte Prediger jeden Sonntag mit dieser Gemeinde von Armen, Gebrechlichen, Verirrten und Schuldigen den Gottesdienst abhält. Wenn irgendwohin, so gehört die Religion mit ihrem Troste in diesen Aufenthalt des Jammers und meist selbstverschuldeten Unglücks. Der Betsaal ist im höchsten Grade einfach; nackte kahle Wände, weiß angestrichene Bänke, ein schlichter Altar mit dem Bild des Gekreuzigten bilden den ganzen Schmuck. Hier kommen wirklich Alle her, welche mühselig und beladen sind, wie es im Evangelium heißt. Aber es ist ein steinig harter Boden, auf den das Wort Gottes fällt; versteckte Herzen, verhärtete Gemüther, abgestumpft durch die Noth, das Verbrechen und den thierischen Genuß; für alle edleren Gefühle, für jedes Streben nach dem Höheren verloren. Eine traurige Kirche für eine noch traurigere Gemeinde!

Wir warfen einen Blick durch das Fenster auf den unten liegenden Hof, wo eine Anzahl von Mädchen ihre Freistunden genossen. Sie waren in braune Jacken gekleidet, einzelne trugen einen gelben Streifen auf der Schulter, zum Zeichen, daß sie rückfällig geworden. Ein Blick auf das freche Treiben der Dirnen, ihr schamloses Gelächter, ihre gemeinen Späße, die zu uns emporschallten, verriethen sogleich ihre bürgerlich entehrte Stellung. Es waren dies die Prostituirten. Den Meisten stand ihr Gewerbe und Laster auf der Stirn geschrieben; sie kokettirten noch in ihren Sträflingskleidern und ließen ihre Augen frech im Kreise umher schweifen. Gestern noch in rauschender Seide und Champagner schlürfend, büßen sie heute im Arbeitshause den Taumel der durchschwelgten Nacht. Ihr Gelächter gilt einer neuen Collegin, welche so eben erst von der Polizei eingebracht und mit niedergeschlagenen Augen, beschämt und traurig über ihr Schicksal nachdenkt. Sie wendet sich mit Entrüstung von den frechen Dirnen weg und faltet still die Hände, während ihre Leidensgefährtinnen sie mit Spottreden übergießen. Bald wird sie sich jedoch mit ihnen befreunden und den letzten Rest von Scham verlieren. Der gefällige Arzt sagte uns, daß nach seiner Erfahrung derartige Mädchen meist noch verdorbener die Anstalt verlassen, als sie hineingekommen sind. Bei ihrem Austritte werden sie von einer Schaar alter Weiber erwartet, welche die Entlassenen mit den nöthigen Kleidern versehen. Noch an demselben Abend kann man sie in den Straßen und an verschiedenen öffentlichen Vergnügungslocalen herumstreifen sehen. Die noch am Morgen Wolle gezupft, erblickt man in der Dämmerstunde im höchsten Staat ihr schamloses Gewerbe treiben, bis die Polizei sie von Neuem aufgreift und in das Arbeitshaus abliefert.

Wir wenden uns von diesem Auswurf der Gesellschaft zu einem erfreulicheren Bilde, In einem kleinen, hellen Zimmer finden wir einige Knaben von zehn bis zwölf Jahren mit frischen Kindergesichtern, welche sich mit Anfertigung von Cigarrenkisten und ähnlichen leichten Arbeiten beschäftigen. Es sind dies entweder kleine Herumtreiber oder obdachlose Kinder, welche ein vorläufiges Unterkommen finden. Was die Hauptsache ist, sie lernen hier arbeiten und mancher kleine Tagedieb verläßt die Anstalt um ein Gewerbe bereichert, das ihm im späteren Leben zu Nutzcn kommt. Auch für den übrigen Unterricht wird durch einen Lehrer gesorgt, der mit den Kindern in einem der Säle förmlich Schule hält. Die erwachsenen Anwohner werden ebenfalls in der verschiedensten Weise beschäftigt. Da gibt es vollkommene Schuster- und Schneider-Werkstätten, wo fleißig den ganzen Tag genäht und geflickt werden muß. Auch hier finden wir junge Leute, welche dazu angehalten werden, unter Anleitung eines ordentlichen Meisters ein Handwerk zu lernen. Es gibt indessen einzelne, unverbesserliche Taugenichtse, welche eine wahre Arbeitsscheu besitzen, eine fast krankhafte Manie gegen jede Beschäftigung, kaum entlassen, werden sie wieder wegen Herumtreibens eingebracht; sie sind die Habitué’s der Anstalt, und Mancher bringt hier den größten Theil seiner Jugend zu, seine Heimath ist das Arbeitshaus abwechselnd mit dem Criminalgefängnisse. In der nahen Berührung mit ehemaligen Sträflingen, entlassenen Verbrechern aller Art bilden sich in solcher Umgebung die zukünftigen Spitzbuben, wo nicht Mörder aus. Nur durch die strengste Sonderung, welche sich leider bei dem beschränkten Raume nicht durchführen läßt, dürfte es möglich sein, die Ansteckung des Lasters zu verhindern.

Die Uebrigen, welche nicht ein Handwerk treiben, beschäftigen sich mit Krempeln der Wolle, Spinnen, Anfertigen von Matten; die Frauen und Gebrechlichen mit leichteren Arbeiten, wie das Einschlagen von Seifen, Dütendrehen u. s. w. Unter den alten Leuten trafen wir neben wahrhaft ehrwürdigen Gesichtern eine Reihe von vollkommen verlebten und verwitterten Gestalten, unverbesserliche Trunkenbolde mit rothen Nasen, gefährliche Gauner, welche die Schwäche des Alters einzig und allein dem Verbrechen entzogen hat, gebrochene Existenzen, verlorene Menschen aller Art. Ein Maler und ein Dichter würden hier hinreichenden Stoff finden, wenn sie sich die Schicksale der Einzelnen erzählen ließen. Dort der Greis, welcher mit zitternden Händen jetzt Roßhaare zupft, war einst ein reicher Verschwender, der Tausende mit seinen Zechbrüdern und schönen Frauen verpraßt hat. Eines Tages waren seine Taschen leer, seine Freunde verschwunden, die schönen Frauen kannten ihn nicht mehr, und er erwachte von seinem Rausch im Arbeitshause. Sein Nachbar war einst ein geachteter Kaufmann, der sich aus Verzweiflung über eine mißglückte Speculation dem Trunk ergeben hat. Er ist seit einigen Tagen von der Polizei eingebracht worden, die ihn im Rinnstein liegend fand. Der rückfällige Bettler an der Ecke hat wie König Lear sein ganzes Vermögen noch bei seinem Leben auf die Erziehung und Einrichtung seiner Kinder gewendet. Zum Danke lassen sie ihn jetzt im Arbeitshause sitzen. Jene welke Frau mit den Runzeln im Gesicht war einst die gefeiertste Schönheit der Residenz, die Geliebte eines Fürsten. Als er das Verhältniß löste, sank sie schnell von Stufe zu Stufe; sie wurde zuletzt Lumpensammlerin, aber ihr trauriges Gewerbe konnte sie nicht ernähren, weshalb sie ihre Zuflucht zur Anstalt nehmen mußte. Welche Mysterien verbirgt das Arbeitshaus, welche wunderbare Schicksale, welch eine Fülle von interessanten Begebenheiten. Ein Besuch desselben lehrt mehr, als die längste Predigt, mehr als alle Vorschriften der Moral.

Neben dem verschuldeten Unglück gibt es aber auch so manches unverschuldete Elend. Eine eigene Abtheilung bilden die obdachlosen Familien, welche hier einstweilen ein Unterkommen finden. An jedem Quartal, bei jedem Wohnungswechsel werden in Berlin eine Menge armer Leute obdachlos; theils weil sie nicht die verhältnißmäßig theuren Miethen bezahlen können, theils weil sie den Segen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 466. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_466.jpg&oldid=- (Version vom 7.9.2022)