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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

Ein hochherziger Mann aus dem Volke.
Von Ludwig Storch.
(Schluß.)
Der Besuch bei Goethe. – Stumpff als Poet. – Gedicht auf Holz. – Storch und Stumpff. – Eine Stunde beim Weine. – Vaterlandsliebe eines Dichters. – Ein Wort an die Zeitgenossen.

Ich entnehme einem Briefe Stumpff’s an mich eine Stelle, die sich auf diese Abendbesuche bei Goethe bezieht.

„Am ersten Abend mußte ich dem großen Manne viel von London erzählen, besonders von Malern, Bildhauern und anderen Künstlern, und ihm die Namen der vorzüglichsten vorbuchstabiren, welche er sich notirte. Endlich, nachdem ich von den Theatern und Volksbelustigungen gesprochen, fragte er mich plötzlich: „Und womit beschäftigen Sie sich denn in ihren Erholungsstunden in London?“

Diese Frage machte mich etwas verlegen, doch gab mir der Geist schnell eine Antwort ein, die ein langes Nachsinnen nicht besser zu geben vermocht hätte, nämlich: „Dann reite ich mein Steckenpferd, Excellenz.“

„Und darf man wohl wissen, welches das Ihrige ist?“ fragte Goethe weiter und, wie es schien, über meine Antwort verwundert.

„Ei, so muß ich es wohl gestehen, ich pfusche Ihnen in die Kunst und bin ein zwar plumper und unbeholfener Reimschmied, der aber doch für sein Leben gern einen Vers macht, und es nicht lassen kann, jedoch Niemandem mit seinen Schreibereien zur Last fällt.“

„Haben Sie vielleicht etwas von Ihren Poesien mit hier?“ fragte der Dichtergreis ungemein freundlich.

„So ist’s, Excellenz.“ – Ich hatte nämlich ein Gedicht auf der Reise in mein Portefeuille geschrieben. Auf Goethe’s freundliches und ermuthigendes Zureden versprach ich denn, das Gedicht zum nächsten Abend mitzubringen. Kaum war ich am folgenden Tage bei ihm eingetreten, als er mich auch schon fragte: ob ich mein Gedicht mitgebracht habe? Nicht ohne Befangenheit zog ich mein Buch hervor und bat um Erlaubniß vorher bemerken zu dürfen, daß man in keinem Lande mehr als in England darauf bedacht sei, mit Maschinen zu arbeiten. Mittels derselben könnten Leute, die sich solche anschafften und im Gange erhielten, große Reichthümer erwerben, und so seien denn auch Tausende bedacht, auf solche Art ihr Glück zu machen; man habe deshalb fast nichts als Maschinen vor Augen. Dies sei denn auch der Grund, aus welchem ich mir vor kurzem die Dampfmaschine zum Gegenstande dieses Gedichtes „der Kampf der Elemente“ betitelt, erwählt habe.

„Die Dampfmaschine als Gedicht!“ rief Goethe höchlichst verwundert. „Nun, das ist sehr originell. Aber ich bitte Sie: lesen Sie mir das Gedicht vor; ich bin jetzt um so neugieriger darauf.“

Ich willfahrte ihm ohne Ziererei. Er hatte sich erhoben und stand neben mir ganz aufrecht und mit voller Aufmerksamkeit zuhörend. Mir wuchs der Muth; ich las ohne Furcht und hob die kräftigsten Stellen hervor. Goethe schlug mich während des Lesens auf den Arm und sagte dazu außerordentlich gütig: „Gut gut! das ist brav!“ Und als ich fertig war: „Wahrlich, Sie haben Ihre Aufgabe überraschend schön gelöst! Haben Sie die Güte mir das Blatt zu überlassen.“ Nachdem ich es ihm überreicht, fuhr er mit einem bezaubernden Liebreiz in Stimme und Zügen fort: „Also Sie haben noch mehr solcher Verse geschrieben?“

„O ja. Excellenz, aber die übrigen sind so eigenthümlich hölzern, daß ich sie nicht gut jemandem zeigen konnte, hätte ich auch die Furcht überwinden wollen, man möchte darüber spötteln.“

„Nein, mein Freund! Kein Vernünftiger spöttelt über so etwas. Aber, wie meinen Sie das, hölzern? Sie betonen das Wort schelmisch lächelnd.“

„Ei, ich wette, Ew. Excellenz lachen selbst, wenn ich Ihnen die Bedeutung des gebrauchten Eigenschaftswortes gebe, die in der That und Wahrheit die natürlichste und wirklichste und durchaus keine bildliche ist. Meine Verse sind nur in Holz zu finden. Mein Herz sprühte schon in meiner Jugend Begeisterungsflammen für die großen Dichter meines deutschen Vaterlandes; aber nie kam mir der Gedanke in den Sinn, selbst einen Vers zu machen. Das hielt ich für ganz unmöglich und nur wenige Menschen von der Natur mit der Gabe zum Dichten begnadigt. Ein zufälliges Ereigniß, das mich gemüthlich sehr anregte, rang mir im Jahre 1807 das erste Gedicht ab; ich konnte gar nicht widerstehen; es kam gleichsam gegen meinen Willen. Ich war damals schon achtunddreißig Jahre alt, also gerade kein unreifer Poet. Von jener Zeit nun hat der unverstandene Drang meiner Seele, der mich in der Jugend fast wahnsinnig machte, einen Ausweg gefunden. Ich war nicht Meister der deutschen Sprache – wo und wie hätte ich mir auch diese Meisterschaft erringen sollen? – aber alle meine stürmischen Gefühle erzeugten Verse, alle Gluth, die in meiner Seele aufflammte, wurde zum Gedicht. Zwar sagten diese Erzeugnisse nie vollständig, je zuweilen kaum annäherungsweise, was in mir stürmte und drängte, aber sie nahmen mir doch die Last theilweise vom Herzen. Da mich der Sturm fast immer in meiner Werkstatt überfiel, wo ich mich die meiste Zeit des Tages aufhielt, so konnte ich sie nicht zu Papier bringen, denn das hatte ich nicht zur Hand; ich brachte sie also zu – Holz, das mich in Menge umgab, d. h. ich schrieb sie schnell mit Bleistift auf kleine Stückchen Brett, Abfälle der Resonanzböden, Fourniere u. s. w. Diese mit meinen Geistesproducten beschwerten Hölzchen – sie wurden eben nicht schwerer davon – warf ich in einer Ecke übereinander, ohne sie je wieder anzusehen oder einem anderen Menschen zu zeigen, und so ist’s denn seit vollen zwanzig Jahren ein hübsches Häufchen geworden, das eines schönen Tages in lichten Flammen aufgehen wird.“

Goethe lachte wirklich recht herzlich, indem er mit wahrhaft bezaubernder Freundlichkeit sprach: „Nun, was die Art und Weise Ihrer poetischen Production betrifft, so sind Sie wahrlich der originellste Dichter, der mir vorgekommen. Befreien Sie nun aber diese armen gefangenen Vögel aus ihren hölzernen Käfigen und schicken sie sie mir in Papier gepackt zu. Es liegt ein unbebautes Feld in Ihrer Brust, und es ist Pflicht, es zu cultiviren.“

Welch eine hinreißende, herzgewinnende Anmuth und Milde entfaltete diesen Abend der hochverehrte Dichtergreis, so daß er mir wie ein verklärtes höheres Wesen vorkam! Ich wünschte nichts mehr, als ein genialer Maler zu sein, um seine Gestalt, wie sie sich mir an jenem Abende zeigte, und wie sie vielleicht nur wenig Menschen gesehen haben mögen, zu fesseln. Er sprach lange über den Unterschied der Naturpoesie und der gelehrten Poesie, und gab mir herrliche Aufschlüsse über die Eigenthümlichkeiten des schottischen Naturdichters Robert Burns. Wahrlich, es floß ihm vom Munde, wie ein begeistertes Evangelium! Seine Aeußerungen thaten auch das Unzweifelhafteste kund, daß er mich lieb gewonnen hatte, und diese Ueberzeugung hob meine Seele, wie Adlerfittiche.

Am folgenden Abend begrüßte er mich wie einen Freund, den man mit liebevoller Sehnsucht erwartet hat, und sagte zu mir:

„Da ich Sie, mein werther Landsmann, in den Cirkel meiner Freunde aufgenommen habe, so werde ich Ihnen morgen einen Maler über den Hals schicken, der Ihr Conterfei für mich anfertigen wird. Haben Sie die Güte, ihm zu sitzen; ich werde Ihr Bild dann meinem Stammbuch einverleiben, welches aus den Portraits meiner Freunde zusammengesetzt ist.“

Und so geschah’s. Die mit dem großen Manne im vertrauten Umgange verlebten Stunden haben mich unaussprechlich glücklich gemacht, und ich schied endlich mit einer seligen Wehmuth von ihm. Meine Ahnung täuschte mich nicht: ich sah ihn nicht wieder. Zu Hause angelangt, holte ich meinen poetischen Breterschatz hervor, um ihn auf Papier überzutragen. Aber Zeit und Staub hatten die Schrift auf den meisten Bretchen unleserlich gemacht. Was ich retten konnte, wurde mir lieb: es waren ja die Kinder meines Herzens, und Goethe interessirte sich für sie. Ich schickte sie ihm zu, und er überraschte mich mit dem Abdruck einiger davon in seinem Journale „Chaos.“ – So weit Stumpff über die Geschichte seiner Gedichte. –

An einem schönen Maitage des Jahres 1835 stand ich Morgens an meinem Schreibtische. Ich wohnte damals in Gotha. Das junge Laub der Linden, welche den Vorplatz einer mir gegenüber liegenden Kirche zierten, leuchtete erfrischend und anregend durch die offnen Fenster in mein Zimmer. Man klopft an die Thür.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 468. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_468.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2022)