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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

theuer ist. Betrachten Sie das Portrait – man möchte glauben, es sei das meinige.“

Unwillkürlich warf der Consul einen Blick auf das kleine Bild. Ein reizendes Mädchengesicht lächelte ihm entgegen. Sein Blick ward düster, seine Züge wurden ernst, dann wehmüthig.

„Madame,“ sagte er bewegt, „ich würde mich glücklich gepriesen haben, wenn Ihr Charakter dieser Dame gliche, wie Ihre Züge ihr gleichen! Ihre Mutter war eine brave Frau!“

„Ich weiß es, mein Herr; aber was habe ich gethan, daß Sie mich ihrer für unwürdig erklären?“

„Was Sie gethan haben? Madame, diese Frage beweist, daß Sie nicht um ein Haar besser sind, als mein sauberer Neffe. Gehen Sie – ich kann mich Ihrer nicht freuen, kann den Lieblingsplan nicht verwirklichen, den ich zur Ruhe meines Alters entworfen habe.“

„Ich verstehe Sie!“ flüsterte Louise bewegt, trotzdem sie sich Mühe gab, ihre Fassung zu bewahren.

„Weinen Sie nicht, Ihre Thränen können meine Meinung nicht ändern!“ rief der Consul. „Man kennt das – Thränen stehen den Frauen jederzeit zu Gebote!“

„Mein Herr, ehe ich mich entferne, muß ich Ihnen sagen, daß die Gattin Ihres Neffen stets würdig gewesen ist, Ihre Nichte und die Tochter meiner guten Mutter zu sein.“

„Lästern Sie nicht, Madame, lästern Sie nicht! Können Sie geschehene Dinge ungeschehen machen?“

„Ja, Herr Consul!“

„Wenn das wäre!“ murmelte Leberecht, schmerzlich lächelnd.

„Was würden Sie sagen, wenn Ihre Nichte stets eine gute, brave Frau gewesen?“

„Dann müßten Sie meine Nichte nicht sein!“ rief entrüstet der Consul.

„Und wenn ich es nicht wäre?“ fragte Louise unter Thränen, neu lächelnd.

„Wie! Sind Sie nicht Louise Bronner!“

„Aber auch nur Louise Bronner, nicht mehr! Wenn ich mich Ihnen als Ihre Nichte vorstellte, so geschah es, um meiner Freundin Albertine ein Vermögen zu retten, das ihr die Launen eines alten Griesgrams zu entreißen droheten. Da ich jetzt eingesehen, Herr Consul, daß ich Ihnen mißfalle, und daß Sie zur Ruhe Ihres Alters einer andern Nichte bedürfen, so trete ich mit der Versicherung zurück, daß ich zur Strafe für den Frevel, den ich ausgeübt, Herrn Alexander von Windheim heirathen werde. Und, mein Herr, wollen Sie das Andenken an meine Mutter ehren, die Sie einst liebten, so übertragen Sie Ihre väterliche Zärtlichkeit auf Albertine, die sich großmüthig meiner annahm, als ich durch den Tod meines Vaters eine Waise ward. Verdammen Sie mich, wenn ich mich der Freundin auf diese Weise dankbar zeigte? Hätte Alexander, dem ich schon vor drei Jahren meine Hand versprochen, unsern Plan nicht zerstört, Sie würden mich als eine abscheuliche Person kennen gelernt, enterbt und aus dem Hause gejagt haben. Aber ich muß früher meine Rolle beenden, um die Ehre meiner Freundin zu retten, die Sie in den Armen ihres Mannes überrascht haben.“

Der Consul war keines Wortes mächtig, ihm rannen die Thränen über die braunrothen Wangen. Jetzt ward ihm Alles klar. Schweigend küßte er die Stirn des jungen Mädchens, das wie er weinte.

„So darf man doch an die Freundschaft der Menschen glauben?“ rief er endlich aus.

„Bei dem Andenken an meine Mutter, die auf uns herabsieht, ich habe Sie aus Freundschaft getäuscht! Und nun eilen Sie, und nehmen Sie die Beleidigungen zurück, die Sie Ihrer wahren Nichte zugefügt haben.“

Louise zog ihn in das Zimmer, in dem sich Albertine befand. Die junge Frau, die an der Thür gelauscht hatte, eilte ihm entgegen – er schloß sie in seine Arme. Wilhelm überraschte den Oheim in dieser Versöhnungsscene. Man ließ den Alten nicht zu Worte kommen, und überhäufte ihn von allen Seiten mit Zärtlichkeiten. Auch Alexander erschien, um die Gruppe vollständig zu machen.

Am nächsten Morgen war Leberecht Dewald ungewöhnlich angegriffen; er kam zeitig aus seinem Zimmer und fragte nach Louisen, die bereits ihre Toilette beendet hatte.

„Sie begleiten mich, Louise!“

„Wohin?“

„Zu dem Pfarrer in R.“

„Allein?“

„Ich bitte Sie darum.“

Eine halbe Stunde später hielt der Wagen vor dem Pfarrhause. Als der Consul mit seiner Begleiterin die Hausflur betrat, stand der greise Pastor neben dem mit Blumen geschmückten Sarge seiner alten Haushälterin. Louise wich betroffen zurück. Der Consul führte sie näher und flüsterte: „Betrachten Sie die Züge dieser alten Frau, mein Kind, und prägen Sie sie Ihrem Gedächtnisse tief ein; sie steht Ihnen näher, als Sie glauben.“

Dann zog er den Pfarrer bei Seite, und fragte leise: „Hieß die Verstorbene nicht Helene Selmar?“

„Ja, Herr Consul; aber wie können Sie wissen –?“

„Still, mein alter Freund, ich werde Ihnen bald noch mehr Aufschlüsse geben. Sehen Sie die junge Dame dort? Sie ist die Enkelin der Verstorbenen. Glauben Sie es nur,“ fügte der Consul wehmüthig ernst hinzu, „ich theile Ihnen die Wahrheit mit.“

Zitternd trat er zu dem Sarge zurück, entblößte sein Haupt, und betete leise vor sich hin. Der Pfarrer und Louise betrachteten erstaunt den seltsamen Alten, dem die hellen Thränen über die vollen Backen rannen.

„Louise,“ flüsterte er dann, „beten Sie mit mir für Ihre Großmutter!“

„Herr Consul, meine Mutter hat ihre Mutter nie gekannt!“

„Aber ich kenne sie! Und darum soll sie das Bild ihrer Tochter mit sich in das Grab nehmen!“

Er legte das Portrait in die Hand der todten Frau. Acht Landleute traten schweigend ein. Man schloß den Sarg. Der Pfarrer erschien in feinem Ornate. Bei dem Läuten der Dorfglocke trug man den Sarg hinaus auf den Friedhof.

„Suchen Sie Ihre Pensionirung nach,“ sagte der Consul beim Abschiede zu dem Pfarrer; „es ist Zeit, daß Sie zur Ruhe kommen. Sie werden mit mir mein Landhaus bewohnen!“




Die letzte Amtsverrichtung des alten Pastors war die Trauung Louisen’s mit Alexander von Windheim in der kleinen Dorfkirche. Gleich nach der Ceremonie fuhr man nach der Solitüde zurück. Hier kündigte der Consul den beiden Frauen an, daß sie zu gleichen Theilen sein Vermögen erben würden, und händigte ihnen die Documente darüber aus. Alexander von Windheim protestirte dagegen, indem er sich für reich genug erklärte, um seiner Frau ein glückliches Loos bereiten zu können – aber Leberecht blieb unerschütterlich, man mußte sich seinem Willen fügen. Zwei Tage später reisten die beiden glücklichen Ehepaare, von dem Segen und den Capitalien des reichen Onkels begleitet, nach Bremen zurück.

„Herr Pastor,“ sagte der Consul, als er mit dem neuen Hausgenossen in seinem Zimmer allein war, „ich habe gethan, was mir in diesem Leben zu thun möglich war. Das Vermögen, das mir der Schiffsmakler hinterlassen, hat sich zwar in meinem Besitze verdoppelt, aber es brannte in den letzten Jahren wie Feuer auf meiner Seele, denn ich wußte, daß er es dem Auswanderer genommen hatte, der, während er auf seine Frau wartete, in Bremen starb. Ich wollte die Tochter des Auswanderers heirathen, um sie des ihr gebührenden Vermögens theilhaftig zu machen; aber sie liebte meinen Freund Bronner, und wies mich zurück. Voll Groll wandte ich mich ab, und behielt mein Vermögen. Bronner und seine Frau starben; da erfaßte mich Reue über meine Hartherzigkeit – und so habe ich an der Tochter gut gemacht, was ich an der Mutter verschuldet. Mir ist jetzt leichter um’s Herz, und ich hoffe zu Gott, daß er mir ein ruhiges Alter schenken wird. Ja, ja,“ murmelte er, „es ist doch ein eigenes Ding mit dem Gewissen. Wehe dem, der sein Erwachen zu fürchten hat!“

Außer dem Pastor hat Niemand das Geheimniß des Consuls erfahren, der seit dieser Zeit ruhig in seiner Solitüde lebt. Wenn er wüßte, daß Louise ihr Erbschaftsdocument Albertinen’s Knaben geschenkt, dem sie Pathe war, er würde gewiß nicht so heiter ausgerufen haben: „Gott sei Dank, daß ich Großonkel bin!“



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