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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

Da schlug ein Laut an ihr Ohr. Es war ein so sonderbarer Laut, ein leises Wimmern, ein unterdrückter Hülferuf. Er kam vom Wasser her; aber nicht aus dem Wasser. Er kam aus den Weiden, die am Wasser standen, dort, dicht, unmittelbar am Wege, auf welchem die Leiche zum Kirchhofe getragen war.

Was war das?

Es hatte nur ein paar Secunden gedauert, da war es wieder still geworden. Sie horchte. Sie hörte nur wieder den Wind, der an die Fenster schlug und durch die Bäume strich, und die Wellen, die durch die Weiden rauschten und die Kähne, die gegen einander sich schüttelten. Es wurde ihr graulich.

Jetzt, in diesem Augenblicke, hatte der Leichenzug den Kirchhof erreicht, wurde der Sarg in die Erde gesenkt.

Wer klagte dort? Wer rief um Hülfe? Konnte die Todte nicht von ihren Lieben scheiden? Von ihrem Kinde? Von dem alten Vater, dem sie so vielen Kummer gemacht hatte? Sie hatte doch das Wasser ausgegossen, früh genug, völlig nach dem Brauche!

O, wenn alte Bräuche die Ruhe dem Todten geben könnten, der gefehlt oder gelitten hat, der seine Lieben zurücklassen muß!

Sie wollte in das Haus zurückeilen. Da noch einmal der Laut. Leises Klagen, unterdrücktes Rufen nach Hülfe.

Aber war das nicht eine männliche Stimme? Konnte es nicht ein Unglücklicher sein, der ihrer Hülfe bedurfte? Ein Verirrter, der in der Dunkelheit des Abends, in dem Sturm des Herbstwetters in das Wasser gerathen war?

„Wer ruft da?“ rief sie laut.

Sie bekam keine Antwort.

„Hat dort Jemand gerufen?“ rief sie noch einmal lauter.

Es war ihr, als ob sie in der Ferne Schritte höre, weit fort von der Gegend, wo sie die jammernde Stimme vernommen hatte.

Eine Antwort erhielt sie nicht.

Was war das wieder?

Sie horchte noch eine Weile; hörte aber nichts mehr, als den Wind und den Regen und das Rauschen der Wellen. Auch die Schritte waren nicht mehr zu hören.

Sie kehrte in das Haus zurück. Aber sie war erschrocken, und konnte nicht sogleich weiter gehen, die Todte anzusagen. Sie kehrte in die Stube zurück.

„Du warst schon bei dem Nachbar?“ fragte der alte Mann im Bette.

„Nein, Vater, ich werde gleich gehen.“

„Ich hörte Dich draußen sprechen.“

„Ich glaubte ein Wimmern vernommen zu haben, und da rief ich, ob Jemand Hülfe bedürfe.“

Der alte Mann war aufmerksam geworden.

„Wo hörtest Du das?“

„Es war mir, als ob es aus den Weiden am Strome käme.“

„Unterhalb oder oberhalb?“

„Unterhalb, dort, wo sie –“ Sie stockte.

„Wo sie die Leiche vorbeigetragen haben?“ ergänzte der alte Mann.

„Ja,“ sagte leise das Mädchen.

„Sollte sie schon jetzt keine Ruhe haben?“ fragte der alte Mann, und warf sich unruhig in seinem Bette umher.

„Muhme Felicitas!“ rief leise das Kind.

Das Mädchen nahete sich dem Kinde.

„Muhme, im Himmel ist die Mutter?“

„Ja, mein Kind.“

„Aber warum haben sie sie denn auf den Kirchhof getragen?“

„Ihre Seele kommt in den Himmel.“

„Und was haben sie auf den Kirchhof gebracht?“

„Ihren Leib, mein Kind.“

„Und der bleibt da?“

„Er schlummert dort im Grabe.“

„Ganz allein, liebe Muhme?“ fragte daö Kind. „Ganz allein die arme Mutter? Da hinten in dem dunklen Kirchhofe? In der finsteren Nacht? In dem häßlichen Wetter? Mich friert, Muhme!“

Das Kind schüttelte sich.

„Beruhige Dich, meine gute Anna, Deine Mutter ist nicht allein, die Engelchen sind bei ihr, gute, freundliche Engel; die wärmen sie.“

Aber das Kind weinte schmerzlich.

„Muhme Felicitas, ich fürchte mich. Die arme Mutter!“

Das Mädchen zündete eine Lampe an, dem Kinde die Furcht zu benehmen. Dann wollte sie gehen, die Todte anzusagen. Die Lampe beschien die drei Personen, die in der Stube des Fährhauses waren. Der alte Mann im Bette war ein hinfälliger Greis. Sein Gesicht war so geisterbleich, so hohl. Lag der Tod schon bei ihm im Bette? Seine stechenden Augen blickten gespensterhaft. Das Kind auf der Bank war ein blasses, abgezehrtes Mädchen von vielleicht sechs Jahren. Seine großen, schwarzen Augen glänzten so matt und so unheimlich. War der Tod bei ihm schon näher, als bei dem hinfälligen Greise?

Zwischen ihnen stand ein in der Jugend und in der Schönheit von achtzehn Jahren blühendes Mädchen. Ihr Gesicht zeigte tiefe Trauer. Das Kind beruhigte sich, als es das Gesicht sah.

Draußen wurde ein anderer Ton laut, als der des Wetters und des Wassers. Pferde sprengten in wildem Galopp heran.

Das Mädchen erbebte. Sie warf einen schmerzlichen Blick auf den Greis und das Kind.

Wollte da Jemand auf die andere Seite des Wassers übergesetzt werden, so mußte sie es besorgen; sie war mit den Beiden allein zu Hause. Der Bursch, der ihr sonst half, oder allein den Fährmann machte, wenn sie nicht da war, war mit der Leiche gegangen. Es war ein blödsinniger, stiller Mensch, der schon seit zwanzig Jahren an der Fähre war.

Mußte sie jetzt übersetzen bei dem heftigen Winde, dem wild treibenden Wasser, auf wie lange Zeit mußte sie die hülflosen Kranken allein lassen! Von dem Todtenansagen beim Nachbar wäre sie doch in einer Viertelstunde zurückgekommen.

Die Thür der Stube wurde geöffnet, schnell, aber nicht laut, nicht heftig.

Ein junger Bauer trat eilig in die Stube. Er strich sich die nassen Haare aus dem hochgerötheten Gesichte. Er hatte eine eilige Frage auf der Zunge; aber er unterdrückte sie, als er in der Stube sich umgesehen hatte.

„Ist die Leiche schon lange fort?“ fragte er im Tone der Theilnahme.

„Seit einer Stunde,“ antwortete ihm der Greis im Bette.

„Verzeihet mir, Vater Rose, ich konnte sie nicht begleiten, ich hatte dringende Abhaltung.“

„Es that mir leid, Dich nicht dabei zu sehen, Ferdinand.“

„Auch mir that es leid. Ich habe sie so oft hier leiden sehen. Ich hätte sie so gern zu ihrer Ruhe begleitet; sie hat ja jetzt Ruhe.“

„Ja, sie ruhet aus von schwerem Elende.“

„Fünf Jahre lag sie hier.“

„Beinahe sechs. – Welche Abhaltung hattest Du?“

Der junge Mensch antwortete nicht. Er wandte sich an das Mädchen.

„Felicitas, hast Du Niemanden übergesetzt?“

„Seit zwei Stunden keinen Menschen.“

„Und woher?“

„Ein paar Landleute, die von drüben kamen und in’s nächste Dorf wollten.“

„Und Niemanden von dieser Seite nach drüben?“

„Seit heute früh nicht. Bei dem schlechten Wetter bleiben die Leute zu Hause.“

„Wer war es heute früh?“

„Eine Frau aus unserem Dorfe. – Suchst Du Jemanden, Ferdinand?“

„Wißt Ihr denn hier noch nichts von den Franzosen?“

„Was sprichst Du von den Franzosen?“ fragte der Greis.

„Ihr wißt es also noch nicht?“

„Kein Wort.“

„Alter Vater Rose, hätte das die Todte noch erlebt! Hört. Bei Leipzig sind die Franzosen geschlagen. Mit ihrem Regimente bei uns, in ganz Deutschland, ist es vorbei.“

Der hinfällige Greis hatte in seinem Bette sich hoch aufgerichtet. Eine Röthe konnte in dieses geisterbleiche Gesicht nicht mehr aufsteigen. Aber die gespenstischen Augen leuchteten hell in ihren dunklen weiten Höhlen, wie glühende Kohlen aus einem Todtenschädel.

„Wir sind frei, sagtest Du? Frei?“

„Wir sind frei, Vater. Es ist aus mit ihnen. Die ganze französische Armee ist vernichtet. Der Kaiser ist über den Rhein entflohen. Was ihm folgen kann, folgt ihm. Sie hatten hier überall, so lange sie konnten, die Nachricht vor den Leuten zurückgehalten. Gestern Abend kam sie in die Stadt. Flüchtige Soldaten kamen zerrissen und verhungert an. Gensd’armen folgten.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 610. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_610.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)