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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

und mit einem dankbaren Blicke sah er das Mädchen an und mit einem freundlichen das Kind, das auf ihrem Schooße saß.

„Du liebst schöne Geschichten?“ sagte er zu dem Kinde.

Felicitas erschrak.

„Sie haben uns behorcht?“

„Ja, mein gutes Mädchen, ich habe Euch behorcht. Oder nein, ich habe nicht gehorcht, ich habe Alles gehört, was Ihr Beide gesprochen habt. Aber ich habe es gehört, wie man im Schlafe die Stimmen der Engel hört, unter deren leisem und süßem Geflüster man nicht schläft und nicht wacht und nur immer süß lauschen muß. Ich habe Alles gehört, was Ihr spracht, Du, Felicitas, und das Kind. Und laß auch mich dem Kinde eine andere schöne Geschichte erzählen. Sie ist auch aus einem fernen Lande da hinten an der Ostsee und ich selbst habe sie von daher mitgebracht.

„Dort, an der Grenze von Rußland, liegt das Land Litthauen. Darin gibt es Städte, in welchen Litthauer wohnen, die alten Einwohner, denen früher das Land gehörte, zusammen mit den Deutschen, die nachher als Herrscher zu jenen in das Land eingedrungen sind. Sie lieben einander nicht sonderlich und haben daher Vieles nicht mit einander gemein. So auch haben die Deutschen ihre besondere Kirche und die Litthauer wieder ihre eigene, und auch ihre Kirchhöfe haben sie jede getrennt für sich. Nun begibt es sich, daß Manche unter ihnen im Leben sich gegenseitig befreundet waren, Deutsche mit Litthauern und Litthauer mit Deutschen. Deren Seelen möchten denn auch nach dem Tode mit einander verkehren und sich sagen, wie lieb sie sich noch immer haben. Aber nun liegen die Gräber der Deutschen hier auf dem Kirchhofe und die der Litthauer dort weit von einander und sie können nicht Grab zu Grab zusammen reden und sich Freundes- und Liebesworte sagen. Da besuchen sie sich denn gegenseitig auf ihren Kirchhöfen, und des Nachts, besonders wenn es stürmisches Wetter ist, fliegen sie in der Luft von einem Kirchhofe zu dem anderen. Sehen kann man sie nicht; aber sie können auf ihren Wegen kein Hinderniß leiden, und so sieht man zwischen den beiden Kirchhöfen kein Haus und keine Hecke und keinen Zaun, und es gedeihet daselbst kein Baum und kein Strauch.

„Die Volker können sich hassen, die Menschen lieben sich,“ schloß der Franzose, nicht zu dem Kinde gewandt, seine Geschichte.

Das Kind hatte ihn aufmerksam angehört, Felicitas träumerisch. Sie träumte weiter.

„Felicitas,“ sagte der Genesende freundlich, „wenn ich erwachte, sollte ich meinen Trank haben.“

Sie erröthete; er hatte Alles gehört, was sie mit dem Kinde gesprochen hatte. Sie reichte ihm den Trank, der neben ihr stand. Sie konnte ihn nur mit zitternden Händen ihm reichen. Er drückte die Hände; er küßte die eine, die seinen Lippen nahe kommen mußte. Sie zog sie erschrocken zurück. Allein als er den stärkenden, erfrischenden Labetrank genossen hatte und sie die Hand ihm wieder nahe bringen mußte, um ihm das Gefäß abzunehmen, da nahm er diese wieder und drückte sie zärtlich an sein Herz, und sie konnte sie diesmal nicht zurückziehen, sie mußte sie ihm lassen und konnte nur weinen.

Er aber richtete sich auf in seinem Bette, sah sie mit seinen dunklen Augen voll Liebe an und sagte zu ihr, indem er ihre Hand fester hielt:

„Felicitas, Dir danke ich mein Leben. Du hast mich mitleidig aufgenommen und mich gepflegt und noch gerettet, Du den Mann, der Dein Volk haßt und hassen muß, den zu hassen, wie dieses Kind vor wenigen Minuten in seiner glücklichen Unwissenheit ausplauderte, Du und die Deinigen noch besondere Ursache haben. Du mußt wissen, wem Du das Leben gerettet, wen Du zu einer ewigen Dankbarkeit Dir verpflichtet hast. Darf ich Dir von mir erzählen?“

Sie nickte schweigend mit dem Kopfe, und er erzählte ihr sein Leben, wie er, gebürtig aus Bordeaux, wo sein Vater, Namens Beaufort, ein wohlhabender Kaufmann war, sich gleichfalls der Handlung gewidmet und schon früh auf ein Comptoir nach Hamburg gekommen sei, wo er auch die deutsche Sprache gelernt und das deutsche Volk, seine Sitten und sein Leben lieb gewonnen; wie er darauf in seine Heimath zurückgekehrt sei und glücklich in dem elterlichen Hause mit seinen Geschwistern gelebt, aber immer eine Sehnsucht nach dem deutschen Lande behalten habe; wie darauf, als der Kaiser Napoleon sich zu dem russischen Kriege gerüstet und so viele Soldaten gebraucht habe, sein glückliches Familienleben zerstört worden, auch er habe Soldat werden und nach Rußland ziehen müssen. Er erzählte seine Leiden in diesem fürchterlichen Feldzuge; wie er darauf in Deutschland habe gegen Deutsche kämpfen müssen, zuletzt in der Schlacht bei Leipzig; wie hier nach furchtbarem Kampfe endlich die französische Armee geschlagen, auseinandergesprengt, in wilder Flucht aufgelöst sei. Er ward von der allgemeinen Flucht mit fortgerissen. Allein in der Schlacht, durch einen Schuß verwundet, der ihm die linke Hand zerschmettert, hatte er, geschwächt durch den Blutverlust, entkräftet durch den Schmerz, durch Anstrengungen und durch Entbehrungen, schon nach wenigen Tagen der Flucht kaum mehr folgen können. Mitleidige Cameraden hatten sich seiner angenommen, hatten ihn getragen, geschleppt, für seine Nahrung gesorgt, und stets unter den größten Gefahren, mit Hintansetzung des eigenen Lebens. Nicht von Soldaten waren sie verfolgt, nicht kriegsmaßige Behandlung, nicht Gefangenschaft hatten sie zu befürchten, wenn sie ergriffen wurden: das Volk verfolgte sie. Männer, Greise, Weiber, Kinder hatten mit allerlei Waffe, mit offener Gewalt, mit heimlichem Verrath überall eine große, allgemeine Hetzjagd gegen sie angestellt, gegen die armen, versprengten, verwundeten, kranken, verhungernden Flüchtlinge, eine Hetzjagd auf den Tod. Wie viele seiner Cameraden hatten den Tod gefunden! Zwei mitleidige Gefährten waren ihm treu geblieben; sie hatten glücklich mit ihm durch einsame Heide und unwegsames Gebirge sich hindurch gekämpft und geschlichen. So waren sie bis in diese Gegend gekommen. Eine Stunde weit vom Fährhause hatten Frauen sie gesehen, waren in das Dorf geeilt und hatten die Männer herbeigerufen. Eine wilde Jagd hatte begonnen, durch Bäche, über Zäune, durch Wald, durch Gebirge. Der hereinbrechende Abend hatte sie gerettet. Die Verfolger hatten ihre Spur verloren; aber die Armen konnten hören, wie fast rund um sie her diese Spur wieder aufgesucht wurde. So kamen sie an den Strom, aber auch an das Fährhaus. Der Strom, breit, tief, reißend, hinderte, zumal in der finsteren Nacht, in dem stürmischen Unwetter, die weitere Flucht. Die Kähne an den Fährstellen gaben neue Hoffnung, aber sie lagen fest an Ketten angeschlossen und die Schlösser konnten nicht ohne großes Geräusch erbrochen werden. Das Geräusch hätte Leute aus dem Fährhause herbeigezogen. Zudem waren in der Nähe des Fährhauses fast fortwährend Menschen. Die Verfolgten waren in Verzweiflung; die Gefahr der Entdeckung wuchs mit jedem Augenblicke; es gab nur noch ein Mittel des Entrinnens; der Strom mußte durchwatet, durchschwommen werden. Die beiden Gefährten des Verwundeten konnten das; sie waren nicht verwundet, sie waren kräftiger geblieben; für ihn, mit dem verstümmelten Arme, mit dem schon fast zum Tode entkräfteten Körper, war es eine Unmöglichkeit. Die letzte Hetzjagd hatte ihn völlig erschöpft; Nahrung hatte er den ganzen Tag nicht zu sich genommen; er lag kraftlos am Ufer und konnte sich nicht mehr erheben; der Frost schüttelte ihn, das Fieber drohte ihm die Sinne zu verwirren. Die Cameraden standen rathlos neben ihm; sie hätten ihn weiter, auch durch den Strom, mit sich ziehen und schleppen können, aber sie hätten an das jenseitige Ufer nur eine erstarrte Leiche gebracht, darüber war kein Zweifel. Die treuen Krieger wollten ihn nicht verlassen; sie wollten mit ihm sterben, erschlagen werden oder verhungern. Er bat, er beschwor sie, ihn allein zu lassen und sich zu retten. Sie waren junge Männer, gepreßt zu dem Kriegsdienste, wie er. Aber – jene Zeit war eine sonderbare Zeit der Begeisterung. Wie der Deutsche, der Greis und der Knabe, der Mann und das Weib, entflammt, wurde für die Abschüttelung der Knechtschaft, des Joches des fremden Unterdrückers, so war in dem französischen Kriegsheere kein Mann, der nicht mit Freude, mit einer zauberhaften, fast wüthenden Freude sein Leben, sein Alles hingegeben hätte für den großen und vor Allem für den jetzt so unglücklichen Kaiser. Man vergaß das Fortreisen von den Lieben, man dachte nicht an die Heimath, an Weib und Kind, an Geliebte, Eltern und Geschwister, nicht an Leiden, Strapazen und Entbehrungen, man dachte nur an den Ruhm, an die Größe, an das Unglück des Kaisers.

Es ist etwas Großes um ein begeistertes Volk. Das Größte ist ein Volk, begeistert für seine Freiheit.

Der Verwundete beschwor zuletzt seine Cameraden bei ihrer Pflicht gegen den Kaiser, und sie gingen. Sie legten ihn am

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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 638. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_638.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)