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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

„Sie liegt in der Ecke dort; Du wirst sie mir verwahren, ich hole sie wieder mit Dir.“

„Man würde sie dort finden; sie würde Dich verrathen und muß deshalb vernichtet werden.“

„Vernichtet?“ rief der Franzose schmerzlich.

Das Mädchen besann sich.

„Ich hebe sie Dir auf. Du holst sie wieder, mit mir.“

Sie ging in die Ecke und belud sich mit den zusammengelegten Uniformstücken. Beide stiegen die Leiter hinunter; sie ließen sie stehen, denn sie konnte nun nichts mehr verrathen, nichts mehr entdecken. Unten trug das Mädchen die Uniform des Franzosen in den Schrank, in welchem die Kleider ihres Bruders gewesen waren.

„Dort wird Niemand sie suchen.“

Dann trug sie das Bette, in welchem der Franzose geruhet hatte, wieder zu der Stelle, an welcher ihre Schwester darin gestorben war. Bruder und Schwester hatte sie verloren; sollte sie auch den Geliebten verlieren? Sollte sie es, so starb sie mit ihm, denn das hatte ihr Vater und auch der Blödsinnige ihr gesagt. Aber der Vater hatte ihr auch geflucht, wenn sie ihm den Franzosen nicht ausliefere! Wie kam ihr auf einmal der Gedanke! Jetzt? In diesem Augenblicke? Es war der Fluch des Wahnsinns! Aber wäre es auch der Fluch des klaren Gedankens gewesen, sie konnte nicht anders – sie liebte!

Sie kehrte zu dem Geliebten zurück, sie nahm seine Hand.

„Jetzt folge mir.“

Sie verließen still das Haus. Hand in Hand traten sie in das ungestüme Wetter und horchten ängstlich. Es war still; sie hörten nur den heulenden Novemberwind, das Rauschen des Wassers, das Schwirren der Weiden, das Aneinanderschlagen der Nachen; es war, wie vor vierzehn Tagen, als sie sich gefunden hatten.

Schon vierzehn Tage waren seitdem vergangen. Die Zeit des Glückes vergeht schnell.

„Nun noch eine Bitte, Felicitas, bevor wir in den Nachen steigen.“

„Welche?“

„Führe mich zu der Weide, in der Du mich fandest.“

Sie führte ihn dahin. Sie schlug die Zweige der Weide auseinander und trat mit ihm an die Stelle, an der er gelegen hatte, den Tod erwartend, das Leben, das Glück findend. Auch sie hatte das Glück gefunden.

Hatte sie?

Sie küßten sich still; dann gingen sie zu den Fährnachen. Sie öffnete das Schloß, mit dem der kleine Nachen angeschlossen war.

„Steige ein, mein Geliebter.“

Er stieg an ihrer Hand ein. Sie stieß darauf den Nachen vom Ufer ab und setzte sich auf die Ruderbank.

„Setze Dich neben mich, Alphons, hier an meine linke Seite, damit ich den rechten Arm frei habe, den Nachen zu regieren. Wir lassen so uns langsam hinuntergleiten, wir bleiben dann länger beisammen; im Hause schlafen sie, und Deine Verfolger können in der Finsterniß uns nicht sehen und in dem Unwetter uns nicht hören.“

Er setzte sich dicht an ihre Seite, mit seinem gesunden, rechten Arme ihren schlanken Leib umfassend. Sie lehnte sich an ihn. Mit ihrem rechten Arme führte sie das Ruder und den Kahn; mit ihrer linken Hand hatte sie den Stumpf seiner in der Leipziger Schlacht zerschossenen linken Hand umfaßt.

So saßen sie auf der Ruderbank, in dem schmalen Nachen, auf dem brausenden Strome, in der finstern, stürmenden Nacht. Der Nachen glitt langsam dahin; die rollenden Wellen hatten ihn wohl rasch fortgerissen, weit stromabwärts; aber die geübte und gewandte Schifferin regierte mit leichter Mühe ihn so geschickt, daß er halb die Wellen durchschnitt und sie ihn nur halb mit sich ziehen konnten.

Sie wechselten Worte der Liebe, der Hoffnung, des Wiedersehens, des Glückes. So suchten die liebenden Herzen sich selbst und eins dem andern den Schmerz der Trennung zu vertreiben.

„In drei Monaten bin ich wieder bei Dir, Felicitas.“

„Es ist eine lange Zeit, Alphons; aber in dem Gedanken an Dich wird sie mir nicht lang werden.“

„Dann komme ich an das Ufer dort, dem wir jetzt zurudern, und rufe: Hol’ über! Ich habe das Wort so oft auf dem einsamen Dachboden gehört.“

„Und ich komme in diesem Nachen, in diesem nämlichen Nachen, und hole Dich ab; wie werden meine Hände vor Freude zittern!“

„Und dann trennen wir uns nie mehr; so lange Dein Vater lebt, bleiben wir in Deutschland; ich richte mir in der Nähe eine Handlung ein. Ruft der Himmel ihn ab, so ziehen wir nach meiner schönen Heimath, an die reizenden Ufer der Garonne, an die warmen Gestade des atlantischen Meeres; wie glücklich werden wir dort sein!“

„Ganz, ganz glücklich, mein Alphons!“

Sie umfaßten sich inniger. Sie lenkte das Ruder langsamer und der Nachen glitt rascher mit den Wellen hinunter; er durchschnitt langsamer den Strom und so blieben sie länger beisammen. Es waren nur Minuten; aber Minuten des Glückes.

Die Liebenden vergaßen Alles um sich her, selbst die nahe Minute, die sie auseinander reißen sollte, selbst den Schmerz der Trennung. Sie waren längst an dem Dorfe vorbeigekommen, in welchem in diesem Augenblicke der Blödsinnige den Haß und die Rache gegen den Mann des allgemeinen Hasses, der allgemeinen Rache aufgestachelt hatte, den Mann, der so süß im Arme der Liebe ruhete, den der Arm der Liebe so fest umschlungen hielt; sie fühlten nur Liebe.

Sie kamen an dem Kirchhofe vorbei, auf dem die todte Schwester so allein schlief. „In der finstern Nacht, in dem häßlichen Wetter!“ hatte das Kind gesagt, und es hatte sich vor Frost geschüttelt.

Der Kirchhof lag dicht an dem Wasser. Der Wind, als sie vorbei kamen, heulte über die Gräber dahin; er sauste durch die schwarzen hölzernen Kreuze, die auf den Gräbern standen; er warf die Kränze von vertrockneten Herbstblumen durcheinander, die auf den Kreuzen hingen.

Da rieselte der Frost durch die Brust des Mädchens; er stieg bis an ihr Herz heran. Sie hatte die Todte nicht angesagt! Die Liebe ist stark; auch der Glaube, auch der Aberglaube ist es; sie sind stark eben in der Liebe. Sie drückte sich zitternd an den Geliebten.

„Kommst Du wirklich wieder?“ rief sie laut. „Verläßt Du mich nicht? Kommst Du wieder? Sprich. Es wäre mein Tod!“

„Felicitas, kann ich von meinem Leben lassen?“

„Du kommst? Du kommst? O, sage es mir! Sage es mir noch einmal! Schwöre es mir!“

„Felicitas, so wahr –“

„Nein, schwöre es nicht, ich war eine Wahnsinnige; mich faßte es auf einmal, wie ein Schwindel. Du kommst wieder! Nicht wahr, Du kommst wieder?“

„Ich komme wieder, so wahr ein Gott im Himmel lebt, so wahr Du mir das Leben gerettet hast.“

Sie hatte sich wieder beruhigt.

„Verzeihe mir, Alphons, ich war närrisch. Wie konnte ich zweifeln? – Sieh, sieh, dort ist ja auch das Wahrzeichen.“

Hinten am Horizonte, dort woher der Strom kam, erhob sich ein heller Schein; die Kuppel des fürstlichen Schlosses wurde wieder erleuchtet. Der Fürst war nach langer Abwesenheit in seine Besitzungen zurückgekehrt und hielt seinen Einzug in sein Schloß; es war fürstlich erleuchtet.

Der Schein des Feuers fiel auf die Liebenden. Sie hatten in dem tiefen Dunkel der Nacht einander nicht sehen können, nicht einmal die Sterne ihrer Augen, wie hellglänzend von Thränen und von Glück sie sich auch zulächelten. Sie sahen jetzt ihre lieben Züge; sie sahen trunken von Liebe, von Glück, von Schmerz hinein. Nur noch wenige Augenblicke, und sie sollten sich trennen; trennen auf so lange Zeit. Für immer?

Sie sahen noch einmal in die theuern Züge; sie wollten sie sich einprägen für immer. Da erlosch das Feuer auf der Kuppel des fürstlichen Schlosses, rasch, plötzlich, wie vor vierzehn Tagen. Der Frost schüttelte das Mädchen wieder und erstarrte ihr Herz. Der Kahn hatte das Ufer erreicht.

Schon? Und sie waren auf dem Wasser dahin geglitten, eine Minute in ihrem Glücke und Unglücke der Liebe, des Abschiedes. Sie sprangen aus dem Nachen. Beide.

„Nicht auf dem schwankenden, trügerischen Wasser wollen wir uns Lebewohl sagen; auf der festen treuen Erde.“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 654. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_654.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)