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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

ihr Ohr traf, heftig zusammen. Der zweite Laut sagte ihr, daß es eine fremde Stimme war.

Die Kälte des Winters ließ nach; die Luft wurde milder.

Die Mitte des Februar rückte heran. Jetzt mußte er jeden Tag kommen.

Sie hatte keine Nachricht von ihm erhalten, nicht die geringste. Sie hatte auch keine erwartet, denn er hatte nicht gesagt, daß er schreiben werde; er hatte auch nicht verlangt, daß sie ihm schreiben solle. Er wollte wiederkommen, ehe das Vierteljahr um war, und sie wußte, daß er wiederkommen werde.

Sie kam bei Tage nicht von dem Ufer des Stromes; sie hatte bei Nacht keinen Schlaf.

Der fünfzehnte Februar war da. Es war der letzte Tag. Heute mußte er kommen. Der Tag brachte wieder rauheres Wetter. Sie saß schon, bevor er graute, am Ufer, Auge und Ohr nur nach jenseits gerichtet, nach der Stelle, an der er erscheinen, an der er dem Nachen zum Herüberholen rufen mußte. Sie saß unverwandt so. Sie fühlte keine Kälte, keinen Hunger, keinen Durst.

„Hol’ über!“ rief es wohl manches Mal von drüben. Aber eine andere Stimme hatte es gerufen, eine andere Gestalt zeigte sich, um übergesetzt zu werden.

Der Abend kam, kälter, dunkel. Sie saß noch immer. Sie saß unbeweglich, wie ein Bild von Stein.

Sie sei erfroren, meinten die Leute.

Der Fährmann wollte sie in’s Haus nehmen, damit sie aufthaue und Nahrung zu sich nehme.

„Laßt mich,“ sagte sie, „ich muß hier bleiben.“

Der Blödsinnige kam zu ihr. Er hatte nie wieder mit ihr über den Franzosen gesprochen; auch mit andern Leuten nicht. Außer ihm und Ferdinand, der gleichfalls verschwiegen gewesen war, wie das Grab, wußte daher Niemand von ihrer Liebe.

„Du wartest noch immer auf ihn?“ fragte der schwachsinnige Mensch.

„Ja.“

„Er wird nicht kommen.“

Es war die Rede eines Irrsinnigen. Aber die Worte durchfuhren sie doch, sie mußte zu ihm aufblicken.

„Er kommt nicht!“ wiederholte der Blödsinnige, und das irre Auge sah sie so geisterhaft, so prophetisch an.

Aber in ihrem Herzen sagte es: „Er wird kommen, er kommt.“

Sie blieb sitzen, den Blick und das Ohr wieder unverwandt nach drüben.

Er hatte es ja versprochen. Er konnte sie nicht betrügen. Hätte sie ihn betrügen können?

Sie saß bis Mitternacht. Der Wind führte ihr die Schläge der Glocke auf dem benachbarten Dorfthurme zu. Sie brauchte sie nicht zu zählen. Sie hatte, seit es dunkel geworden war, jede Stunde gezählt. Sie zählte dennoch. Mit dem letzten, zwölften Schlage blickte sie noch einmal nach dem jenseitigen Ufer, wo sie schon lange nichts mehr sehen konnte, horchte sie noch einmal nach der Landungsstelle, wo sie schon lange nichts mehr gehört hatte. Sie sah, sie hörte nichts.

Der Tag, das Vierteljahr war vorüber! Er war nicht gekommen.

„Er ist krank geworden! Es ist ihm ein Unfall begegnet, ein Hinderniß. Wie leicht ist das möglich in dieser Jahreszeit!“

Betrügen konnte er sie nicht!

Sie ging in ihre Hütte. Sie saß noch lange an dem schmalen Fenster und schaute vergebens in die Dunkelheit und horchte vergebens in die Nacht hinein.

Das glückliche Herz mit seinem Hoffen hatte sie früher nicht schlafen lassen. Das schwere Herz verscheuchte jetzt den Schlaf von ihr. Aber die Hoffnung blieb ihr. Die Hoffnung führte sie schon vor Anbruch des andern Tages wieder an das Ufer.

„Er kommt nicht,“ sagte der Blödsinnige. „Er ist ein Feind, und Dein Vater hat ihn verflucht und Dich mit ihm.“

„Er kommt!“ sagte es in ihrem Herzen.

Sie setzte sich in den Nachen, in denselben Nachen, in dem sie ihn auf das jenseitige Ufer gebracht, in dem ihn wieder abzuholen sie ihm versprochen hatte. Sie fuhr auf das Wasser hinaus zu der Landungsstelle, an der er erscheinen, an der er einsteigen mußte. Hier wartete sie, still träumend, den Blick unverwandt auf den Pfad gerichtet, in den er hinter den Weiden am Ufer her hineintreten mußte. Sie wartete, bis es Abend wurde. Er kam nicht. Sie fuhr zu der Fährstelle zurück. Dort wartete sie wieder, bis rings um sie her kein Leben mehr war, bis im Fährhause Alles schlief, bis kein Licht durch die Nacht mehr zu ihr herüber leuchtete. Dann ging sie in ihre Hütte. Aber auch hier saß sie noch am Fenster, bis die Uhr auf dem Thurme des Dorfes Mitternacht schlug.

Der zweite Tag war vorüber.

„Er ist verhindert worden; aber er kommt gewiß!“

Es kam der dritte Tag. Sie wartete am Wasser.

„Er kommt nicht! Dein Vater hat Dir und ihm geflucht!“ sagte der Blödsinnige.

„Er kommt!“ sagte ihr Herz.

Sie stieg wieder in den Nachen, sie fuhr wieder auf das Wasser hinaus. Sie wartete an der Landungsstelle. Sie wartete wieder an dem Fenster ihrer Hütte, bis die Glocke des Dorfes Mitternacht geschlagen hatte. Er kam nicht.

„Er kommt doch!“ sagte sie.

So verging der vierte, der fünfte Tag, so vergingen die folgenden Tage, bis der Märzmonat kam, bis der warme Frühling erschien. Sie fuhr jeden Tag hinaus auf das Wasser; sie wartete jeden Tag an dem Landungsplatze. Sie sagte täglich:

„Er kommt doch! Er kommt!“

Er kam nicht.

Sie sprach nur diese Worte. Sie sprach sie nur zu sich. Mit keinem anderen Menschen redete sie ein Wort. Ihr Gesicht blieb immer ruhig, freundlich, freundlich träumend. In ihrem Herzen wohnte ja nur Liebe und Glaube und Hoffnung.

Aber bleich, sehr bleich war das schöne Gesicht geworden, und ihr Körper sehr mager.

Der junge Bauer kam zu ihr.

„Felicitas, Du gehst hier zu Grunde. Willst Du nicht mit mir ziehen zu meiner Mutter?“

„Nein, Ferdinand, ich muß hier bleiben.“

„Erwartest Du ihn nicht vergebens? Wenn er Wort halten wollte, müßte er nicht schon längst da sein?“

„Er ist verhindert worden.“

„Hätte er dann nicht geschrieben, armes Mädchen?“

„Er kommt, Ferdinand, er kommt.“

„So schreibe Du einmal an ihn.“

„Würde ihm das nicht Mißtrauen zeigen? Und müßte ihn das nicht kränken, wie es mich kränken würde, wenn er mir schriebe, ob ich ihm treu geblieben sei?“

Der junge Bauer verließ sie fast weinend. Sie war so still, so verfallen und so – gläubig.

Er hatte sich von ihr den Namen und Wohnort des Franzosen sagen lassen. Er schrieb selbst nach Bordeaux, wie das Mädchen warte und zu Grunde gehe. Er erhielt keine Antwort.

Er schrieb zum zweiten Male. Wiederum vergebens.

Er ging zu dem Mädchen zurück.

„Felicitas, ich habe an ihn geschrieben, zweimal, ich habe keine Antwort bekommen. Er lebt nicht mehr, oder er hat Dich vergessen.“

Sie schüttelte den Kopf.

„Er kommt, Ferdinand!“

Er glaubte, ein still verborgener Wahnsinn habe sich ihrer bemächtigt; aber ihr Auge war klar und ihre Antworten waren vernünftig. Sie liebte und sie glaubte nur beides, unerschütterlich.

War das nicht Wahnsinn? Es war wenigstens eine tiefe, schwere, unheilbare Krankheit.

Eines Tages sah man sie wieder in ihrem Nachen auf das Wasser fahren.

Auch der Sommer war vorüber, und die letzte, rauhe Hälfte des Herbstes nahete.

Ihr Gesicht war so weiß geworden, wie frisch gefallener Schnee im Winter. Ihr Körper war abgemagert, daß man sie ohne Erbarmen nicht ansehen konnte.

Sie war zu der Landungsstelle am jenseitigen Ufer gefahren, wie gewöhnlich. Sie hatte dort lange gewartet, auf der Ruderbank, auf der sie mit ihm gesessen, still, das Auge nach der Stelle gewandt, an der er hinter den Weiden hervorkommen mußte.

Nach einer Stunde hatte sie den Kahn den Strom hinuntergleiten lassen, weit, weit fort, an dem Dorfe vorbei, an dem Kirchhofe vorüber. Wie sie an dem Kirchhofe vorüber fuhr, wandte

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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 656. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_656.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)